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Die Philosophie des Reisens Warum wir so gerne in die Ferne schweifen

Die Ferien in der Ferne gehen diesen Sommer vermutlich baden. Aber warum überhaupt verreisen? Ein Essay über die Alltagsflucht, das Fernweh und die Reise zu uns selbst.

In letzter Zeit denke ich viel an meine Reisen zurück. An Madagaskar, Marokko, Südamerika. Ich vermisse das Fremde, den Sand, das Meer, das Licht, die Sprachen, das Essen, die Löcher in den Strassen, all die Gesichter, in denen sich ein mir fremdes Leben spiegelt.

Nicht nur das Heimweh ist eine Schweizer Erfindung. Auch das Fernweh ist uns bestens vertraut. Die Schweiz gehört zu den reisefreudigsten Ländern der Welt.

Jährlich packen wir im Durchschnitt mehr als dreimal die Koffer, auf der Suche nach Erholung, Exotik, Luxus, Abenteuer, Inspiration und Irritation.

Dieses Jahr ist alles anders. Die Corona-Pandemie durchkreuzt unsere Reisepläne. Kein Dschungel-Trekking, kein Palmenstrand, kein Städtetrip.

Dem Klima tut das sicherlich gut. Was aber macht es mit unserer Seele? Warum wollen wir immer mal wieder weg?

Im Urlaub suchen viele Menschen vor allem eines: Abstand vom Alltag. Eine Art Fluchtbewegung also, weg von Stress und Monotonie.

Der Konsum geht weiter

Bei manchen Menschen wiederum ist der Urlaub eine blosse Fortsetzung des Alltags mit anderen Mitteln. Ob Städtetrip, Shoppingurlaub oder Sightseeing: Hauptsache, der Konsum geht weiter.

Gebäude, Plätze, Seen und Berge werden ebenso abgeklappert wie die «kulinarischen Highlights» des jeweiligen Landes. Kurz ein Foto schiessen und auf zur nächsten Trophäe.

Leider aber wird kaum ein Foto richtig gut. Der Grund: Es sind andere Touristen darauf zu sehen. Oder wie Hans-Magnus Enzensberger schreibt: «Der Tourist zerstört, was er sucht, indem er es findet.»

Was aber tut man gegen den unsäglichen Massentourismus, unter dem Städte wie Venedig und Luzern ebenso leiden wie der Machu Picchu und die Rigi? Die Preise erhöhen? Kontingente und Obergrenzen festlegen?

Ein Kreuzfahrtschiff im Hintergrund überragt die Stadtsilhouette von Venedig
Legende: Heute dürfen die riesigen Kreuzfahrtschiffe nicht mehr in der Lagunenstadt anlegen. Dennoch leidet Venedig noch immer unter dem Massentourismus. (Bild: April 2014) Keystone/EPA/ANDREA MEROLA

All das kann man machen. Wenn unsere Reisegewohnheiten aber Ausdruck unseres Lebensstils sind, dann gilt: Wir müssen unser Leben ändern, bevor wir anders reisen werden.

Zudem sollten wir bei unserer Reiseplanung beherzigen, was schon der griechische Fabeldichter Äsop wusste: «Wer unzufrieden ist an einem Ort, wird selten glücklicher an einem anderen Ort.»

Der Grund dafür ist unser Ich. Wir nehmen es mit – egal, wie weit wir uns entfernen.

Bild eines Mannes, der auf einem Felsen steht und auf ein Nebelmeer schaut.
Legende: Durch die Weite ganz nah zu sich kommen: Das zeigt Caspar David Friedrichs Bild «Der Wanderer über dem Nebelmeer» von 1818. Getty Images/DeAgostini

Suchen wir auf Reisen also nicht primär andere Orte, sondern ein anderes Ich? Eine Veränderung des eigenen Selbst? Und: Brauchen wir fremde Umgebungen, um unbekannte Seiten an uns selbst zu entdecken? Weckt erst die Fremde das Fremde in uns?

Viele Reisende kennen, was der Philosoph Hegel «bei sich selbst sein im Anderen» nennt, ein Zu-sich-selbst-Kommen beim Weggehen. Darin besteht wohl die Dialektik des Reisens.

Der französische Schriftsteller Victor Hugo meint gar, nicht ohne Emphase: «Reisen ist, in jedem Augenblick geboren werden und sterben.»

Die Komfortzone durchbrechen

Auf jeder wahrhaften Reise geschieht eine innere Wandlung. Wir kehren mit anderen Augen zurück. Auch auf dem Ballermann kann das geschehen.

Viele Menschen an einem Strand
Legende: Den Horizont erweitern kann man auch auf der Pauschalreise. Entscheidend ist die eigene Einstellung. REUTERS/Enrique Calvo

Voraussetzung ist, dass wir uns öffnen und treiben lassen, uns Zeit nehmen, auch für «Sehensunwürdigkeiten», die Komfortzone verlassen, Begegnungen mit dem Fremden suchen, Routinen durchbrechen und uns überraschen lassen, auch von uns selbst.

Nur so kann passieren, was man etwas plump «Horizonterweiterung» nennt, und woran Goethe dachte, als er schrieb: «Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen.»

Reisen kann auch irritieren

Auf Reisen erkennen wir: Unser Zuhause ist nicht das Zentrum der Welt. Andere Perspektiven sind möglich.

Erst durch diesen Perspektivwechsel sehen wir die Konturen der eigenen Lebensweise. Das Eigene tritt erst durch die Aussenansicht hervor – und wirkt auf einmal fremd. Bei der Rückkehr von längeren Reisen kann es gar zum «Kulturschock» kommen.

Auch während des Reisens machen wir bisweilen verstörende Erfahrungen des Nicht-Verstehens. Nur selten nämlich können wir auf Reisen in andere Kulturen «eintauchen». Oft bleibt es bei einer Irritation, bei der Erfahrung einer tiefen Kluft, begleitet von der leisen Ahnung einer ebenso tiefen Verbundenheit.

Die äussere ist auch die innere Wildnis

Ähnlich ambivalente Gefühle begegnen uns in der wilden, unberührten Natur. Für viele ist sie der Ort, wo wir uns selbst näherkommen. Wer «into the wild» geht, reist immer auch in seine eigene, innere Wildnis. Naturerfahrung wird zur Selbsterfahrung.

Dieses Motiv findet sich bereits bei dem italienischen Dichter Petrarca im Jahr 1336. Beim Besteigen des Mont Ventoux zitiert er die Worte des heiligen Augustinus, der schrieb: «Und es gehen die Menschen hin, zu bestaunen die Höhen der Berge, die ungeheuren Fluten des Meeres, die breit dahinfliessenden Ströme, die Weite des Ozeans und die Bahnen der Gestirne und vergessen darüber sich selbst.»

Frau vor Berglandschaft
Legende: Auf dem Gipfel der Erkenntnis: So stellen sich viele Denker das Naturerlebnis vor. Getty Images/ DEA / ALBERT CEOLAN

Petrarca selbst findet in der Natur zu sich selbst, sein Geist erklimmt ungeahnte Höhen. Denker wie Jean-Jacques Rousseau, Henri David Thoreau oder Friedrich Nietzsche berichten Ähnliches. Die Naturerfahrung wird zum Erweckungserlebnis.

Die Berge, das Meer, die Wüste, die Gestirne: Das Erhabene der Natur überwältigt unser Gefühl und übersteigt unseren Verstand. Gleichzeitig trägt uns diese Erfahrung der Unendlichkeit über uns selbst hinaus. Immanuel Kant schreibt von einem Gefühl eines «übersinnlichen Vermögens in uns».

Pilger- und Heldenreisen

Die Reise in die Natur gleicht einer Pilgerreise, einer Suche nach Erleuchtung und Erlösung. Man darf vermuten, dass Wallfahrten die ersten «echten» Reisen waren, die Menschen unternommen haben.

Dass wir auch heute noch von Pilgerreisen fasziniert sind, zeigt nicht zuletzt der Erfolg des Millionenbestsellers «Ich bin dann mal weg» von Hape Kerkeling.

Sogar die Weltliteratur beginnt mit einer Art Pilgerreise: Im Gilgamesch-Epos zieht König Gilgamesch los, auf der Suche nach Unsterblichkeit. Homers «Odyssee» erzählt von der abenteuerlichen Reise des Odysseus zurück in seine Heimat.

Mosaik von Männern auf einem Schiff
Legende: Homers Odysseus auf dem Schiff, dargestellt auf einem Mosaik aus dem 3. Jahrhundert n.Chr. Flickr/Tony Hisgett

Später folgen Vergils «Aeneis» und Dantes «Göttliche Komödie». Für die Romantik wird das Reisen gar zum Leitmotiv, etwa in Joseph von Eichendorffs Novelle «Aus dem Leben eines Taugenichts».

Auch heute begegnet uns die «Heldenreise» fast überall. Selbst Hollywood-Blockbuster wie «Star Wars» sind nach dem Erzählmuster der Heldenreise gestrickt. Der US-amerikanische Mythenforscher Joseph Campbell sieht darin eine kulturübergreifende Grundstruktur aller Mythen.

Auf dem Weg zur letzten Reise

Auch beim Nachdenken über unser eigenes Leben greifen wir gerne auf Reise-Metaphern zurück: «Das Leben ist eine Reise. Nimm nicht zu viel Gepäck mit», meinte der britische Rockmusiker Billy Idol. Denn am Ende wartet die «letzte Reise», der Tod.

Das Reisen ist also in unserem Denken eingenistet und prägt die Geschichten, die wir von der Welt und von uns selbst erzählen. Auch wenn die Pandemie unseren Bewegungsradius einschränkt, in unserem Geist reisen wir weiter.

Literatur und Kunst vermögen unseren Horizont zu weiten, uns auf produktive Weise zu irritieren und uns fremde Perspektiven näherzubringen. Ähnlich wie das Reisen. Alles, was wir dazu brauchen, ist Fantasie, Offenheit und Zeit.

Auf längere Sicht bleibt uns keine andere Wahl: Wir müssen uns daran gewöhnen, weniger oft und weniger weit zu reisen. Die Klimakrise zwingt uns dazu.

Trost finden wir in den Worten des bengalischen Dichters Rabindranath Tagore: «Ich stelle mir bisweilen vor, wenn ich durch die Strassen gehe, ich sei ein Fremder, und erst dann entdecke ich, wie viel zu sehen ist, wo ich sonst achtlos vorübergehe.»

Keine leichte Übung, aber eine wichtige. Denn darin besteht die Kunst des Reisens: dass wir mit neuen Augen zurückkommen.

Oh, wie schön ist Panama

So wie in Janoschs Kindergeschichte «Oh, wie schön ist Panama»: Der kleine Tiger und der kleine Bär ziehen los, in Richtung Panama, ins Land ihrer Träume.

Illustration eines Bären und eines Tigers
Legende: Haben ihr Ziel fest vor Augen und laufen im Kreis: der kleine Bär und der kleine Tiger. Janosch film & medien AG

Die beiden Freunde aber laufen im Kreis und kommen schliesslich zu Hause wieder an. In der Zwischenzeit sind die Pflanzen ums Haus gewachsen und die Witterung hat ihr Haus so stark verändert, dass sie es nicht wiedererkennen. Sie glauben, in Panama angekommen zu sein. Glücklich reparieren sie das Häuschen und leben ihren Traum.

Die beiden Freunde sollten uns ein Vorbild sein. Bauen wir doch unser eigenes Panama.

Auf dem Weg dahin bleiben uns immer noch die vergangenen Reisen. Denn, wie der deutsche Schriftsteller Jean Paul schrieb: «Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.»

SRF 1, Sternstunde Philosophie, 24.5.2020, 11 Uhr

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