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Gesellschaft & Religion «Die Radikalisierung ist ein gesellschaftliches Problem»

Die Sorge, dass sich muslimische Jugendliche radikalisieren könnten, wächst. Nicht zuletzt bei den Muslimen selbst. Als muslimischer Notfallseelsorger bekommt Muris Begovic auch Anfragen aus dem verunsicherten Umfeld der Jugendlichen – und stösst bei seiner Arbeit auch an Grenzen.

Normalerweise betreuen Sie Menschen in Not- und Extremsituationen. Nun suchen Leute auch Ihren Rat, wenn sie den Verdacht haben, in ihrem Umfeld könnte sich jemand radikalisieren. Sind das vor allem Eltern, die Sie kontaktieren? Und welches sind die Anliegen?

Zur Person

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Muris Begovic ist Imam bosnischer Herkunft in der Bosnischen Gemeinschaft in Schlieren und Leiter der islamischen Notfallseelsorge für den Kanton Zürich. Er hat an der Universität Bern Islamwissenschaften und Interreligiöse Studien studiert.

Muris Begovic: Es sind unterschiedliche Anliegen und nicht nur Eltern, die sich melden. Anfragen kommen auch von Jugendlichen, denen aufgefallen ist, dass ihr Freund extreme Ansichten hat. Arbeitgeber rufen an und lassen sich beraten, weil sie eine starke Veränderung bei einem Mitarbeiter bemerkt haben, oder Lehrer, die sich wegen auffälligem Verhalten von Schülern erkundigen.

Was für Veränderungen und Auffälligkeiten ?

Das ist sehr unterschiedlich. Es kann sein, dass jemand beginnt, das fünfmalige Gebet zu verrichten, oder aufhört, Alkohol zu trinken. Sie fragen dann, ob das Anzeichen einer Radikalisierung sind. Andere bemerken, dass ein Jugendlicher Sympathien zu radikalem Gedankengut entwickelt und sich zunehmend an Gruppierungen orientiert, die Tod und Schrecken verbreiten und Gräueltaten verherrlichen, entsprechende Videos konsumieren und solche Inhalte weiterverbreiten. Im Gegensatz zum ersten Beispiel muss man hier hellhörig sein und aktiv werden.

Was raten Sie dann?

Das kommt auf den Einzelfall an. Ich versuche, mit denen zu reden, die Angst um ihren Freund, Sohn, Schüler oder Mitarbeiter haben, und in erster Linie ihnen beizustehen. Sie machen sich Vorwürfe und fühlen sich oft verantwortlich. Ich versuche herauszufinden, ob die betroffene Person eine Autoritätsperson in ihrem Leben hat und ob es möglich ist, mit dieser Person zu sprechen.

In welcher Hoffnung?

Die Autoritätsperson hat den besseren Zugang und kann Einfluss nehmen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Ratschläge der Autoritätsperson beim Betroffenen ankommen, ist viel grösser, als wenn eine aussenstehende Person das macht. Einer besorgten Lehrerin habe ich etwa geraten, mit den Eltern zu sprechen, und gefragt, ob der Schüler in eine Moschee geht, um eventuell den Imam zu kontaktieren. So kann ich mir ein genaues Bild über die Situation machen und dann entscheiden, wie weiter vorzugehen ist.

Sprechen Sie auch mit den Jugendlichen direkt?

Ich spreche mit jenen Jugendlichen, die keine extremen Ansichten vertreten. Ich versuche, sie dafür zu sensibilisieren, wo Gefahr besteht, dass sie extreme Ansichten aufschnappen könnten. Das mache ich im Unterricht mit 13- bis 16-Jährigen, oder ich spreche mit ihnen an Jugendtreffs. Auch bei Moscheeführungen, wenn Schulklassen die Moscheen besuchen, besonders, wenn muslimische Jugendliche dabei sind. Ich spreche dieses Thema gezielt an.

Aus welchen Milieus kommen die jungen Menschen, die sich mit radikalen Ideen anfreunden?

Es sind sehr unterschiedliche Kontexte. Es gibt kein eindeutiges Muster.

Gibt es professionelle Institutionen, mit denen Sie zusammenarbeiten?

Hier stosse ich an meine Grenzen. Ich weiss nicht, an welche Institution ich verweisen kann. Ich bin Leiter der Muslimischen Notfallseelsorge und kein Experte für Deradikalisierung. Dass die Leute aber zu uns kommen, zeugt davon, dass sie Vertrauen in uns haben.

Wäre ein koordinierendes Netzwerk aus staatlichen, sozialen und religiösen Organisationen hilfreich?

Ja, bestimmt. Unsere Arbeit wird erschwert, weil es kein Standardvorgehen, keine Konzepte gibt, wie in solchen Fällen vorzugehen ist. Unsere Beratungsarbeit ersetzt keinesfalls die professionelle Deradikalisierung. Dieses Phänomen ist kein rein islamisches, sondern ein gesellschaftliches Problem. Um es zu lösen, braucht es ein Netzwerk von Spezialisten.

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