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Digitales Horten: Ein Phänomen, das auch Psychologen beschäftigt
Aus Kultur Webvideos vom 24.10.2019.
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Digital Hoarding Diagnose: Daten-Messie

Tausende Fotos und Mails: Digitale Messies häufen endlos Daten an. Das kann zum Problem werden, sagen Psychologen.

«Zehntausende E-Mails liegen in meinem Postfach. Löschen kann ich keine einzige. Und bei jeder neuen Nachricht muss ich hundert Mal vom Anfang bis zum Ende scrollen. Erst dann kann ich sie als gelesen markieren», schildert ein junger Mann, der lieber anonym bleiben möchte, sein Problem.

Das Rauf- und Runterscrollen stelle für ihn ein Ritual dar, das er befolgen müsse. Neben der Angst, etwas übersehen zu haben, leidet er an einem Ordnungs- und Dokumentationszwang.

Zahlreiche Festplatten stapeln sich deswegen in seiner Wohnung. «Bei Online-Speichern habe ich Angst, die Kontrolle gänzlich zu verlieren», sagt er.

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Was heisst «Digital Hoarding»?
aus 100 Sekunden Wissen vom 22.10.2019. Bild: SRF / Sebastien Thibault
abspielen. Laufzeit 2 Minuten 48 Sekunden.

Ein typischer Fall von «Digital Hoarding». «Wer digitale Daten hortet, leidet in der Regel auch unter anderen Zwangsstörungen», bestätigt Charles Benoy von den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel (UPK).

Der Verhaltenstherapeut weiss, dass Betroffene oft auch vor dem Schreiben von E-Mails grossen Respekt haben. «Wenn Menschen mehrere Stunden brauchen, um eine E-Mail abzuschicken, führt das nicht zuletzt im beruflichen Kontext zu erheblichen Schwierigkeiten», so Benoy.

Tausende Fotos, dutzende Festplatten

2015 beschrieben Psychiaterinnen und Ärzte einer holländischen Klinik im British Medical Journal, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen erstmals die Diagnose «Digital Hoarding».

Digitales Horten bedeutet demnach: Exzessiv Fotos, Videos, E-Mails oder andere digitale Daten anhäufen und sich nur schwer davon trennen können. Es stellt eine Untergruppe des Messie-Syndroms dar.

Hände über einer Computertastatur
Legende: Löschen ist keine Option: bei «Digital Hoarding» wird der digitale Datenberg immer grösser. Keystone / Christian Beutler

Betroffen war damals ein 47-Jähriger, der die Klinik aufsuchte. Pro Tag schoss der Mann bis zu 1000 Bilder mit seiner Digitalkamera. Obwohl sich die Aufnahmen ähnlich sahen, konnte er sich nicht überwinden, eine Auswahl zu treffen und einzelne Bilder zu löschen.

Sein Alltag bestand im Wesentlichen aus dem Horten und Organisieren seiner Digitalfotos auf immer mehr Festplatten. Dadurch vernachlässigte er seine sozialen Kontakte.

Er konnte sich nicht mehr entspannen und vermüllte seine Wohnung. Zuvor war bei dem Mann das Messie-Syndrom festgestellt worden, an dem vier bis fünf Prozent der Weltbevölkerung leiden., Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen

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Aus dem Archiv: Armin Nassehi – warum wir Daten anhäufen
Aus Sternstunde Philosophie vom 01.09.2019.
abspielen. Laufzeit 58 Minuten 1 Sekunde.

Angst vor dem Löschen

Die Wissenschaft befasst sich zur Zeit verstärkt mit dem Phänomen «Digital Hoarding». Forschende der Northumbria-Universität im britischen Newcastle haben vor Kurzem in einer Studie, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen belegt, dass das Horten digitaler Daten sehr häufig vorkommt.

Die Studienteilnehmenden gaben für ihr Horten mehrere Gründe an: Das Aussortieren sei zu aufwändig, sie würden Sachverhalte auch später noch nachweisen wollen oder hätten schlicht Mühe loszulassen, weil sie emotional an ihren Daten hängen würden.

Den emotionalen Aspekt erlebt auch Therapeut Charles Benoy bei seinen Klientinnen und Klienten. Diese berichten ihm von der Angst, sich gleichende Fotos zu löschen – weil so Erinnerungen verloren gehen könnten oder man einer Person auf dem Bild mit dem Löschen desselben ungerecht werden könnte.

In der Cloud, aus dem Sinn?

Die emotionalen Aspekte des Hortens kosten gewisse Menschen also viel Kraft. Die Organisation der eigenen Daten stiehlt ihnen viel Zeit – und Raum. Ist die Datenwolke die Lösung von Horter-Problemen?

Online-Speicher stellen heute teils unbegrenzt Platz zur Verfügung. Viele lassen ihre Daten direkt in die Cloud aufsteigen und löschen kaum mehr etwas.

Das geht aber nur gut, wenn man die eigenen Daten ohne Probleme aus der Hand geben kann. Genau dies fällt digital Hortenden aber oft schwer.

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Aus dem Archiv: Profile, Daten – und wo bleiben wir?
aus Kontext vom 26.09.2017. Bild: Keystone
abspielen. Laufzeit 56 Minuten 15 Sekunden.

Aber selbst, wenn man damit keine Schwierigkeiten hat, bergen Online-Speicher Probleme: Daten-Altlasten können die eigene Sicherheit im Internet gefährden. Ausserdem belastet nicht entsorgter Datenmüll die Umwelt, weil die Datenspeicherung viel Energie benötigt.

Sammle ich noch – oder horte ich schon?

Wann wird der eigene Datenberg zur bedrohlichen Datenflut? Gemäss Charles Benoy kommt es auf das persönliche Empfinden an. Solange das Aufbewahren und Organisieren von Daten das eigene Leben subjektiv nicht beeinträchtigt, ist es für einen selbst auch nicht problematisch.

Benoy rät Menschen jedoch, sich rechtzeitig Hilfe zu holen, wenn sie merken, dass sie mit den eigenen Daten nicht mehr zurechtkommen. Wenn man beispielsweise nur noch mit dem Sortieren eigener Mails, Videos oder Fotos beschäftigt ist und deshalb andere Lebensbereiche vernachlässigt werden.

«Zwanghaftes Horten ist für Betroffene stark schambehaftet. Sie leben teils zurückgezogen und brauchen oft zehn oder zwölf Jahre, bis sie in Behandlung kommen», so Benoy. Letztlich wünscht der Psychologe sich eine Entstigmatisierung des Themas.

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11 Kommentare

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  • Kommentar von martin blättler  (bruggegumper)
    Ich besitze einen Speicher,der leistungsfähiger als alle
    Computer ist,der wichtiges von Müll automatisch trennt,
    das nötige speichert,mich inspiriert.Ausserdem ist er biologisch
    abbaubar und ist fähig,Gefühle zu haben.Alle Menschen besitzen
    dieses Gerät,man muss es nur richtig anwenden:Unser Gehirn.
    1. Antwort von Michel Koller  (Mica)
      Nur ist dieses Speicher nicht besonders präzise und veränderungssicher, denn die gespeicherten Informationen werden ständig mit anderen vorhanden Informationen, inkl. Gefühlen, verknüpft und verändert sich dadurch. Man kann sich nie sicher sein, ob das bestehende Bild im Kopf auch tatsächlich der Realität entsprach.
  • Kommentar von Alfons Bauer  (frustriert)
    "Das Aussortieren sei zu aufwändig"

    Dabei ist es bei digitalem Hoarding so viel einfacher: Haben die noch nie von Duplikatfinder-Software gehört?
    1. Antwort von Michel Koller  (Mica)
      Was hat das mit einem Deduplizierungstool zu tun? Es geht ja nicht um doppelt vorhanden Daten, sondern einfach um einen Datenhaufen ohne konkreten Sinn.
  • Kommentar von Sancho Brochella  (warum?)
    Da ich eher dem 'zu-allem-meinen-Senf-dazugeben-Syndrom anhänge ;-) , schreibe ich hier folgendes dazu: Warum "Entstigmatisierung des Themas"? Messietum jeglicher Art ist doch schon seit Jahren besprochen, gezeigt und medial ausgeschlachtet. Also völlig bekannt und anerkannt. Übrigens: Ich ordne meine Daten immer auf zwei Festplatten, auf einer speichere ich nur alle '1' ab, auf der anderen alle '0'. So gibt's nie ein Durcheinander.