«Zehntausende E-Mails liegen in meinem Postfach. Löschen kann ich keine einzige. Und bei jeder neuen Nachricht muss ich hundert Mal vom Anfang bis zum Ende scrollen. Erst dann kann ich sie als gelesen markieren», schildert ein junger Mann, der lieber anonym bleiben möchte, sein Problem.
Das Rauf- und Runterscrollen stelle für ihn ein Ritual dar, das er befolgen müsse. Neben der Angst, etwas übersehen zu haben, leidet er an einem Ordnungs- und Dokumentationszwang.
Zahlreiche Festplatten stapeln sich deswegen in seiner Wohnung. «Bei Online-Speichern habe ich Angst, die Kontrolle gänzlich zu verlieren», sagt er.
Ein typischer Fall von «Digital Hoarding». «Wer digitale Daten hortet, leidet in der Regel auch unter anderen Zwangsstörungen», bestätigt Charles Benoy von den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel (UPK).
Der Verhaltenstherapeut weiss, dass Betroffene oft auch vor dem Schreiben von E-Mails grossen Respekt haben. «Wenn Menschen mehrere Stunden brauchen, um eine E-Mail abzuschicken, führt das nicht zuletzt im beruflichen Kontext zu erheblichen Schwierigkeiten», so Benoy.
Tausende Fotos, dutzende Festplatten
2015 beschrieben Psychiaterinnen und Ärzte einer holländischen Klinik im British Medical Journal erstmals die Diagnose «Digital Hoarding».
Digitales Horten bedeutet demnach: Exzessiv Fotos, Videos, E-Mails oder andere digitale Daten anhäufen und sich nur schwer davon trennen können. Es stellt eine Untergruppe des Messie-Syndroms dar.
Betroffen war damals ein 47-Jähriger, der die Klinik aufsuchte. Pro Tag schoss der Mann bis zu 1000 Bilder mit seiner Digitalkamera. Obwohl sich die Aufnahmen ähnlich sahen, konnte er sich nicht überwinden, eine Auswahl zu treffen und einzelne Bilder zu löschen.
Sein Alltag bestand im Wesentlichen aus dem Horten und Organisieren seiner Digitalfotos auf immer mehr Festplatten. Dadurch vernachlässigte er seine sozialen Kontakte.
Er konnte sich nicht mehr entspannen und vermüllte seine Wohnung. Zuvor war bei dem Mann das Messie-Syndrom festgestellt worden, an dem vier bis fünf Prozent der Weltbevölkerung leiden.
Angst vor dem Löschen
Die Wissenschaft befasst sich zur Zeit verstärkt mit dem Phänomen «Digital Hoarding». Forschende der Northumbria-Universität im britischen Newcastle haben vor Kurzem in einer Studie belegt, dass das Horten digitaler Daten sehr häufig vorkommt.
Die Studienteilnehmenden gaben für ihr Horten mehrere Gründe an: Das Aussortieren sei zu aufwändig, sie würden Sachverhalte auch später noch nachweisen wollen oder hätten schlicht Mühe loszulassen, weil sie emotional an ihren Daten hängen würden.
Den emotionalen Aspekt erlebt auch Therapeut Charles Benoy bei seinen Klientinnen und Klienten. Diese berichten ihm von der Angst, sich gleichende Fotos zu löschen – weil so Erinnerungen verloren gehen könnten oder man einer Person auf dem Bild mit dem Löschen desselben ungerecht werden könnte.
In der Cloud, aus dem Sinn?
Die emotionalen Aspekte des Hortens kosten gewisse Menschen also viel Kraft. Die Organisation der eigenen Daten stiehlt ihnen viel Zeit – und Raum. Ist die Datenwolke die Lösung von Horter-Problemen?
Online-Speicher stellen heute teils unbegrenzt Platz zur Verfügung. Viele lassen ihre Daten direkt in die Cloud aufsteigen und löschen kaum mehr etwas.
Das geht aber nur gut, wenn man die eigenen Daten ohne Probleme aus der Hand geben kann. Genau dies fällt digital Hortenden aber oft schwer.
Aber selbst, wenn man damit keine Schwierigkeiten hat, bergen Online-Speicher Probleme: Daten-Altlasten können die eigene Sicherheit im Internet gefährden. Ausserdem belastet nicht entsorgter Datenmüll die Umwelt, weil die Datenspeicherung viel Energie benötigt.
Sammle ich noch – oder horte ich schon?
Wann wird der eigene Datenberg zur bedrohlichen Datenflut? Gemäss Charles Benoy kommt es auf das persönliche Empfinden an. Solange das Aufbewahren und Organisieren von Daten das eigene Leben subjektiv nicht beeinträchtigt, ist es für einen selbst auch nicht problematisch.
Benoy rät Menschen jedoch, sich rechtzeitig Hilfe zu holen, wenn sie merken, dass sie mit den eigenen Daten nicht mehr zurechtkommen. Wenn man beispielsweise nur noch mit dem Sortieren eigener Mails, Videos oder Fotos beschäftigt ist und deshalb andere Lebensbereiche vernachlässigt werden.
«Zwanghaftes Horten ist für Betroffene stark schambehaftet. Sie leben teils zurückgezogen und brauchen oft zehn oder zwölf Jahre, bis sie in Behandlung kommen», so Benoy. Letztlich wünscht der Psychologe sich eine Entstigmatisierung des Themas.