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Édouard Louis im Gespräch «Die Mächtigen haben Angst. Das ist erfreulich»

Der Franzose Édouard Louis ist in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. In seiner Literatur macht er das immer wieder zum Thema. In seinen Werken will er Menschen eine Stimme geben, die sonst nicht zu Wort zu kommen. Ein Gespräch mit dem französischen Autor über den Protest der Gelbwesten, die Angst, die Armut auslöst, und die Kraft der Sprache.

SRF: Bringen die Gelbwesten die Revolution, die Sie sich erträumten?

Édouard Louis: Das weiss ich nicht. Die Gelbwesten bringen aber Wahrheit und Realität in die Welt der Politik, deshalb sind diese Proteste so wichtig. Ich bin gerührt, wenn ich diese Bilder sehe.

Ich finde diese Revolte schön, denn so etwas passiert sehr selten. Zum ersten Mal seit langem haben in Frankreich die Menschen an der Macht wieder Angst. Das finde ich schön und erfreulich. Die Leute haben keine Ahnung, wie sehr das Leben der Armen, der Menschen der Arbeiterklasse, von der Angst geprägt ist.

Welche Angst?

Es ist die Angst, sich kein Essen leisten zu können, die Miete nicht bezahlen zu können, die Bedürfnisse der Kinder nicht erfüllen zu können, die Wohnung oder die Arbeit zu verlieren. Meine Kindheit und das Leben der Protagonisten in meinen Büchern sind geprägt von dieser ständigen Angst.

Ich habe aus Wut auf die Literatur zu schreiben begonnen.

Darum finde ich es gut, dass die Mächtigen jetzt auch mal Angst haben. Vor den Gelbwesten. Ich empfinde das als eine Art von Gerechtigkeit.

Sie zählen zu Frankreichs Linksintellektuellen. Was bedeutet es für Sie, links zu sein?

Das heisst für mich, für die Verminderung der weltweiten Gewalt zu kämpfen. Gegen alle Formen der Gewalt: Klassengewalt, Homophobie, maskuline Dominanz. Links zu sein bedeutet für mich hauptsächlich die Bekämpfung der Gewalt.

Das heisst aber auch, dass man den Begriff «Links» immer wieder neu definieren muss, um möglichst viele Formen der Gewalt, möglichst viele Schicksale, Körper, Individuen erfassen zu können. Und es geht auch darum die Sprache der Linken zu verändern.

Wie das?

Als ich begonnen habe, über die Arbeiterklasse zu schreiben, hatte ich den Eindruck, gewisse Bücher sprechen heute noch wie in den 1950er-Jahren über sie. Als ob es keine Schwulenbewegung, keine Feministinnen, keine Antirassismus-Bewegung gäbe. Darum wollte ich radikal zeitgemäss über die Klassen schreiben.

Welche Aufgabe hat da die Literatur?

Für mich ist Literatur wichtig, weil sie über die Welt spricht. Sie nimmt Teil am Diskurs und verbreitet Visionen über die Welt, die niemand sonst verbreitet. Ich habe aus Wut auf die Literatur zu schreiben begonnen.

Ich fragte mich: Warum erzählt die Literatur nicht von Menschen wie meiner Mutter und meinem Vater? Niemand tut es. Höchstens ein bisschen über verdienstvolle Arbeiter.

Die Welt aber, in der ich aufgewachsen bin, ist das, was Karl Marx das Lumpenproletariat nannte. Sie ist noch armseliger als das Proletariat und darüber wird noch weniger geschrieben. Das wollte ich ändern.

Das Gespräch führte Yves Bossart.

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