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Ehemaliger Neonazi erzählt «Es macht Spass, andere Leute zu erniedrigen»

Mit 14 wurde Christian Ernst Weissgerber zum überzeugten Neonazi. Nach einigen Jahren als Ideologe verschiedenster Neonazi-Gruppierungen stieg er aus. Heute engagiert sich der 29-jährige Philosoph für Aufklärung und Prävention.

Christian Ernst Weissgerber

Kulturwissenschaftler und Autor

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Als 14-Jähriger entschied sich der Thüringer Christian Ernst Weissgerber, Neonazi zu werden. Nach mehreren Jahren in verschiedenen Neonazi-Gruppierungen stieg er aus der Szene aus. Er studierte Philosophie und Kulturwissenschaft und ist heute als Autor, Bildungsreferent und Übersetzer tätig.

Website von Christian Ernst Weissgerber

SRF: Wie sind Sie Neonazi geworden?

Christian Ernst Weissgerber: Der Verwandlungsprozess hat schon in der Kindheit angefangen. Es ist eine bewusste Entscheidung gewesen.

Wie sind Sie aufgewachsen?

In ärmlichen Verhältnissen. Mein Vater war Elektroinstallateur. Meine Mutter ist weggegangen, als ich ein Jahr alt war. Denn mein Vater war gewalttätig.

Das Einzige, was mir niemand nehmen konnte, war meine Identität als Deutscher oder eben Arier.

Ist Ihre schwierige Kindheit der Grund, dass Sie Neonazi werden wollten?

Einerseits habe ich daheim ein bestimmtes Ungerechtigkeitsempfinden antrainiert bekommen. Andererseits hat mein Vater eine Pädagogik angewandt, die Angst vor Bestrafung und körperliche Züchtigung beinhaltete. Wir durften die Zimmertüren nicht schliessen. Mein Vater konnte uns immer beobachten.

Meine Schwester hat die Souveränität ihres Körpers dadurch erlangt, dass sie magersüchtig wurde. Und ich, indem ich Nazi wurde. Denn Leute haben Angst vor Nazis. Und was man fürchtet, dem spricht man Macht zu.

Zu den Nazis gehört jedoch auch eine Ideologie.

Ideologien laufen nicht nur auf einer geistig kognitiven Ebene ab. Wenn ich mich für den Herrenmenschen interessiere, hat das auch mit der Darstellung von Körpern zu tun.

Die ideologischen Punkte haben überhaupt nichts mit der empirischen Wirklichkeit der Welt zu tun.

Zudem konnte ich gut an den Alltagsrassismus in meinem Umfeld anschliessen. Das Einzige, was mir niemand nehmen konnte, war meine Identität als Deutscher oder eben Arier.

Auf dieser Grundlage lassen sich gut Verschwörungserzählungen aufbauen: Dass zum Beispiel alle Probleme in der Welt von jüdischen Cliquen ausgehen. Auch habe ich mich mit Geschichtsrevisionismus beschäftigt.

Waren Sie in der Zeit glücklich?

Zumindest war es sehr spannend. Man verstösst ständig gegen Dinge, die verboten sind, kommt aber damit durch. Hass hat mir Spass gemacht. «Hate Speech» wird heute viel diskutiert. Dabei darf man nicht vergessen: Es macht Spass, andere Leute zu erniedrigen oder zu beleidigen.

Haben Sie Ausländer und Juden tatsächlich gekannt?

Ja, ich bin mit Leuten aufgewachsen, die im Kosovokrieg geboren wurden. Das war überhaupt kein Problem. Ich habe schwarze Freunde gehabt.

Es ist wichtig zu verstehen, dass diese ideologischen Punkte überhaupt nichts mit der empirischen Wirklichkeit der Welt zu tun haben. In den Verschwörungserzählungen des Antisemitismus geht es nicht um wirklich existierende Juden. Es geht um den ewigen Juden als eine Figur, die dann auch andere Namen bekommen kann.

Sie waren fünf, sechs Jahre ein Neonazi. Warum sind Sie ausgestiegen?

Aus politischer Enttäuschung. Irgendwann habe ich begriffen, dass die nationale revolutionäre Bewegung gescheitert ist. Und dass auch eine Querfront, also der Versuch, linke und rechte Kräfte zu vereinen, um zusammen gegen das System zu kämpfen, keinen Zweck hat.

Wie haben Sie gemerkt, dass es auch inhaltlich nicht richtig war?

Durch das Studium der Philosophie. Da habe ich angefangen, Argumente zuzulassen, die ich vorher nicht anerkannt hätte.

Buchhinweis

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Christian E. Weissgerber: «Mein Vaterland! Warum ich ein Neonazi war». Orell Füssli, 2019.

Warum gehen Sie mit Ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit und in Schulen?

Ich habe vorher Leuten beigebracht, wie sie andere Leute manipulieren. Verantwortung zu übernehmen, heisst, sich aktiv gegen die Strukturen einzusetzen, die man mit aufgebaut hat und die noch immer weiterwirken.

Das Gespräch führte Noëmi Gradwohl.

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