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Ehemaliger Stasi-Häftling «Ich hatte Angst, dass sie mir die Zähne rauskloppen»

Jürgen Eggert war im Stasi-Gefängnis von Rostock eingesperrt. Heute kehrt der 75-Jährige regelmässig an den Ort zurück, wo Angst an der Tagesordnung war.

«Das war mein Zuhause», sagt Jürgen Eggert, als er die rund zehn Quadratmeter grosse Zelle mit der Nummer 313 betritt. 1961, kurz nach dem Mauerbau, verbrachte der damals 19-Jährige ein knappes Jahr in der Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit in Rostock.

Zwei Pritschen stehen in der Zelle und eine Toilette in der Ecke. Wahrlich kein behagliches Zuhause. Nicht mal nach draussen schauen konnte der junge Mann. Die Glasbausteine des Fensters lassen das Tageslicht nur gebrochen in den kargen Raum hinein.

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Vom Stasi-Knast zur Gedenkstätte
aus Kontext vom 02.04.2018. Bild: imago / BildFunkMV
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Lebender Zeitzeuge

Jürgen Eggert hat den Unrechtsstaat DDR am eigenen Leib erlebt. Der 75-Jährige kehrt regelmässig an den Ort zurück, der ihn als junger Mann für sein restliches Leben prägte.

Wir wollten den Sozialismus überhaupt nicht.
Autor: Jürgen Eggert Ehemaliger Stasi-Häftling

Er führt Besucher durch das Gefängnis, das heute eine Gedenkstätte ist. Als Zeitzeuge erzählt Eggert, was er und Tausende andere hier erlebt hatten.

Die Eingangstüren von den Stasi-Gefängnis.
Legende: Die Einzelzellen waren 7,5 Quadrat­meter gross, mit Waschbecken und freistehendem WC. mauritius images / Ukraft / Alamy

Eggert erinnert sich noch genau an seine Verhaftung: «Es war am 10. November. Da stand morgens die Stasi an meinem Bett – um halb sieben – und hat mich verhaftet.» Den ersten Tag verbrachte er im Keller der Stasi-Behörde in Greifswald. Dann wurde er nach Rostock verlegt.

Er wurde in eine winzige Zelle gesperrt. «Sie war nur etwa ein Meter im Quadrat, ohne Fenster, ohne Licht. Da musste ich mich nackt ausziehen.» Und warten. Irgendwann bekam er seine Kleider zurück und wurde in eine Zelle im dritten Stock verlegt.

Jürgen Eggert im Porträt.
Legende: «Ich musste mich nackt ausziehen»: Jürgen Eggert, als er 1961 verhaftet wurde. Nathalie Nad-Abonji

Zwei Tage vor seiner Verhaftung war Jürgen Eggerts Bruder nach Westdeutschland geflohen. Die Stasi hatte die Familie Eggert aber schon vorher im Visier. Die Arztfamilie war stadtbekannt und ihre antikommunistische Einstellung auch. «Wir wollten nicht den Sozialismus verbessern oder links überholen. Wir wollten den Sozialismus überhaupt nicht.»

Angst als ständiger Begleiter

Über den Grund seiner Verhaftung liess man Jürg Eggert lange im Unklaren. Heute vermutet er, dass seine Verhaftung Familienmitglieder und enge Freunde abschrecken und mundtot machen sollte.

Sein ständiger Begleiter in den ersten Monaten hinter Gittern war die Angst. «Erstens vor den Schmerzen. Und dann hatte ich Angst, dass sie mir die Zähne rauskloppen würden.» Dass die Stasi solche Methoden anwandte, wurde in der Bevölkerung kolportiert.

Wer war die «Stasi»?

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«Stasi» nannten die DDR-Bürger das Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Es wurde 1950 gegründet und entwickelte sich zu einem riesigen Überwachungsapparat. Der Auftrag: die eigenen Bürger zu überwachen, um Gefahren für das Regime auszumachen.

Zuletzt waren rund 91'000 offizielle und rund 173'000 inoffizielle Mitarbeiter (IM) für die Stasi tätig. IM waren Spitzel aus der Bevölkerung. Arbeiter überwachten ihre Kollegen, Jugendliche ihre Mitschüler. Die Stasi setzte IM auch auf Freunde oder Familienmitglieder an.

Ins Visier der Stasi gerieten Bürger nicht nur bei DDR-kritischem Verhalten. Wer nicht der sozialistischen Norm entsprach, war suspekt. Rockmusiker und deren Fans etwa standen im Blickpunkt der Stasi, weil ihr Kleidungsstil eine «negative» politische Einstellung ausdrückte.

Gegen Verdächtige ging die Stasi unzimperlich vor. Wohnungen wurden heimlich durchsucht oder abgehört. «Zielpersonen» wurden durch Beschattung eingeschüchtert, festgenommen (auch ohne Haftbefehl), mit brutalen Methoden verhört und ohne Prozess eingesperrt.

Als die Mauer 1989 fiel, wurde die Stasi nach massiven Bürgerprotesten aufgelöst. Die Akten des Geheimdienstes sind seither für Opfer, Medien und Wissenschaft zugänglich.

Die Staatssicherheit und ihre Methoden

«Die Ungewissheit, die Ohnmacht und vor allem die Isolation der Gefangenen waren einkalkuliert und wurden von der Staatssicherheit bewusst eingesetzt», weiss die Historikerin Steffi Brüning. Sie forscht über das Rostocker Stasi-Gefängnis und sammelt Aussagen von Zeitzeugen.

Die Frauen und Männer sollten möglichst stark verunsichert werden. Beispielsweise indem jeder Kontakt zu anderen Häftlingen unterbunden wurde.

Es gab sogar eine Ampelanlage auf den Gängen, die dafür sorgte, dass die Wärter mit ihren Häftlingen nur den Gang oder das Treppenhaus betraten, wenn kein anderer Wärter mit Häftling unterwegs war. Die Wärter sprachen Gefangene nur im Befehlston mit der Nummer ihrer Pritsche an. Jürgen Eggert, da in Einzelhaft, war immer «Bett 1».

Eine Zelle im Stasi-Gefängnis mit einer Pritsche, einer Toilette und einem Lavabo.
Legende: Jürgen Eggert hiess «Bett 1»: Die Häftlinge wurden nach der Nummer ihrer Pritsche benannt. mauritius images / Ukraft / Alamy

So sollte Eggert dazu gebracht werden, während der täglichen und stundenlangen Verhöre umfassende Geständnisse und Aussagen zu machen, teilweise zu Lappalien und absurden Vorwürfen.

Sie werden noch heulend darum bitten, aussagen zu dürfen.
Autor: Stasi-Vernehmer

Die Staatssicherheit war mehr als ein Geheimdienst. «Sie war auch Geheimpolizei und Untersuchungsorgan und als solches berechtigt, Menschen aus politischen Gründen auf unbestimmte Zeit einzusperren», erklärt Historikerin Steffi Brüning.

4900 Männer und Frauen wurden zwischen 1960 und 1989 allein im Rostocker Stasi-Untersuchungsgefängnis festgehalten und verhört.

Aussenansicht des ehemaligen Stasi-Gefängnisses in Rostock.
Legende: Das ehemalige Stasi-Gefängnis in Rostock von aussen. Wikimedia / Sir James

Perfide Psychospiele statt Schläge

Jeder Häftling hatte seinen persönlichen Vernehmer, der für die Gefangenschaft den einzigen menschlichen Kontakt darstellte. Die Verhöre dauerten Stunden. «Ich war aus Hass standhaft», erzählt Jürgen Eggert. Der Vernehmer habe dann rumgebrüllt: «Sie werden noch heulend darum bitten, aussagen zu dürfen.»

Und dann waren da die «miesen Tricks», wie der 75-Jährige sie nennt. Der Stasi-Mitarbeiter bekam beispielsweise einen fingierten Anruf und tat so, als sei jemandem aus der Familie etwas Furchtbares zugestossen.

Die Stasi setzte auf psychische Gewalt. Geschlagen wurde Jürgen Eggert nie. Seine Zähne durfte er behalten.

Die lang ersehnte Ausreise in den Westen

Nach elf Monaten Untersuchungshaft und vielen Verhören wurde Jürgen Eggert angeklagt wegen «schwerer staatsfeindlicher Hetze». Das Urteil, das die Stasi jeweils dem Staatsanwalt diktierte, lautete in Eggerts Fall drei Jahre Haft.

Jürgen Eggert im Porträt. Er trägt eine Brille und einen Hut.
Legende: Konfrontation mit der Vergangenheit: Jürgen Eggert kehrt regelmässig zum ehemaligen Gefängnis zurück. Nathalie Nad-Abonji

Nach einem Theologiestudium durfte er 1975 mit seiner Frau und seinem Kind endlich ausreisen. Doch selbst in seinem neuen Zuhause in Westdeutschland, wo Jürgen Eggert heute noch lebt, bespitzelte ihn die Staatssicherheit bis zum Ende der DDR weiter, wie er heute aus seinen Stasiakten weiss.

Für Jürgen Eggert ist es wichtig, immer wieder an Ort zurückzukehren, an dem ihm und Tausenden anderen Unrecht geschah. «So etwas darf nicht nochmal passieren. Wir hatten die braune Diktatur, die rote Diktatur. Nun reicht es mit Diktaturen in Deutschland.»

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