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Gesellschaft & Religion Ein Engländer trifft die Stasi-Agenten, die hinter ihm her waren

Timothy Garton Ash, Historiker und Publizist aus London, fährt Ende der 1970er-Jahre nach Berlin um seine Doktorarbeit zu schreiben. Drei Jahre später hat er keine Arbeit geschrieben, sondern ein Buch verfasst. Ein Buch, das ihm ein Einreiseverbot in die DDR beschert.

25 Jahre alt ist Timothy Garton Ash, als er am siebten Oktober 1980 via Checkpoint Charlie das schneebedeckte Ostberlin betritt. In den nächsten neun Monaten will er hier Material für seine Doktorarbeit sammeln. Das Thema: Berlin im dritten Reich.

Garton Ash bei «Sternstunde»

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Der englische Historiker, Schriftsteller und Publizist Timothy Garton Ash beschäftigt sich in seinem neuen Buch mit der Redefreiheit. Er ist Gast in der «Sternstunde Philosophie»: am 06. November 2016, 11:00 Uhr auf SRF 1.

Als Forschungsstudent hat Garton Ash Zugang zu mehreren Ostberliner Archiven. Dort liest er sich durch einschlägige Forschungsliteratur, auch durch jene aus den «speziellen» Schränken, deren Inhalt die DDR lieber verschlossen sehen möchte als in den Händen ihrer Bürger.

Von der einen Diktatur zur nächsten

Während sich Garton Ash über Quellen aus einer vergangenen deutschen Diktatur beugt, wird ihm bewusst, dass die kommunistische Diktatur der Deutschen Demokratischen Republik viel näher ist als jene des dritten Reiches. Sie ist sogar so nah, dass sie mit ihm am Tisch sitzt; in Form eines Offiziers des Staatssicherheitsdienstes.

Unter dem beobachtenden Blick des Stasi-Mitarbeiters verlagert sich das Forschungsinteresse des jungen Studenten. Garton Ash beginnt gezielt Informationen über die DDR zu sammeln. Was er nicht weiss: Auch der Staatssicherheitsdienst sammelt Informationen – über ihn.

Das brisante Buch

Neun Monate später, am 31. Jahrestag der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik verlässt Garton Ash den östlichen Teil Berlins in Richtung Westen. Gleichzeitig mit dem Erscheinen des Buches «Und willst du nicht mein Bruder sein …» im Jahr 1981 werden Auszüge daraus im «Spiegel» abgedruckt. Diesen Abdruck liest auch die Stasi.

Sätze wie «Statistisch gesehen arbeitet (…) jeder 150. Bürger der DDR für die Geheimpolizei» und «In den ersten vierzehn Jahren nach dem 13. August 1961 wurden siebzig Deutsche von Deutschen an der Mauer erschossen. (…) Einige von ihnen mussten nicht einmal von Grenztruppen erschossen werden. Sie haben es selbst getan», bescheren Garton Ash ein Einreiseverbot in die DDR.

Die Stasi-Akte

Ein Verbot, das der nach der Veröffentlichung des Buches wieder in England lebende Publizist ignoriert. Zweimal holen ihn die Behörden auf halber Strecke in den Osten aus der Bahn und schicken ihn in den Westen zurück. Erst Jahre später, nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der DDR, kann Garton Ash legal nach Ostberlin einreisen.

Erneut kommt er nach Deutschland um zu forschen. Doch dieses Mal ist die Quelle keine Zeitung aus Nazi-Deutschland, sondern die Akte «Romeo», jene 325 Seiten, die die Stasi Ende der 70er-Jahre über Garton Ash angelegt hat. Die Diskrepanz zwischen der nüchtern-beobachtenden Wortwahl der Stasi und seinen eigenen, emotional-erzählenden Tagebucheinträgen von damals faszinieren den Historiker.

Zusammentreffen mit den ehemaligen Überwachern

Doch noch mehr als dieser Unterschied interessieren ihn die Menschen hinter den Notizen: So wie Garton Ash als 25-Jähriger herausfinden wollte, was den einen Menschen zu einem Stauffenberg und den anderen zu einem Himmler macht, will er jetzt herausfinden, wie ein Mensch zu einem «IM», einem «inoffiziellen Mitarbeiter» oder gar zu einem Stasi-Offizier wird.

Buchhinweis

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Timothy Garton Ash: «Redefreiheit – Prinzipien für eine vernetzte Welt», Hanser Verlag, 2016.

Viele Jahre nachdem die Akte erstellt wurde, macht Garton Ash die Menschen hinter den darin vermerkten Namen ausfindig und konfrontiert sie mit ihrer Vergangenheit. Für ihn als Historiker ist seine Akte eine Art Geschenk und die Treffen mit seinen ehemaligen Überwachern eine Möglichkeit, einen Einblick in ihre Beweggründe zu erhalten.

Garton Ashs Fazit, nachdem er die damals zuständigen Beamten und Bürger getroffen hat, ist dementsprechend weniger urteilend, als verstehend: Um ein böses System entstehen und existieren zu lassen, brauche es keine bösen Menschen, sagt er im Gespräch mit Wolfram Eilenberger. Es reiche vollkommen aus, wenn dem System genügend schwache Menschen zur Verfügung stünden.

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