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Erinnern an 1945 So erlebte Dora Warth den Krieg als Auslandschweizer-Kind

Zu Fuss floh Dora Warths Familie aus dem Osten Deutschlands. Hilfe aus der Schweiz gab es für Rückkehrer damals kaum.

Man muss die Vergangenheit stehen lassen, sonst kommt man nicht weiter im Leben.
Autor: Dora Warth

Bei ihrer Geburt 1932 dachte niemand, dass Dora Warth den grossen Teil ihres Lebens im St. Galler Rheintal verbringen würde. Ihr Leben auf einem grossen Gutshof in Niederschlesien begann unbeschwert, erinnert sie sich.

Ihr Vater hatte als Melkerlehrmeister eine privilegierte Position im Dorf. «Besser konnte man es nicht haben in Friedenszeiten», sagt sie.

Dora Warth war Auslandschweizerkind der dritten Generation. Ihr Grossvater hatte Ende des 19. Jahrhunderts, wie viele andere Schweizer Melker, Arbeit auf einem der grossen Güter im Osten Deutschlands gefunden.

Kriegsalltag und Hitlerjugend

Dass sie Schweizer Staatsbürger waren, fiel erst mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges auf. Die 7-jährige Dora wurde nun regelmässig darauf angesprochen, dass ihr Vater im Gegensatz zu den deutschen Männern nicht eingezogen wurde.

Auch sonst veränderte der Krieg den Alltag. Plötzlich musste ein Bild von Adolf Hitler im Haus hängen, plötzlich gab es nur noch einen Radiosender und plötzlich gab es für das Mädchen ein neues Freizeitvergnügen: die Hitlerjugend.

Ältere Frau hält lächelnd ein Schwarz-Weiss-Foto in der Hand
Legende: Dora Warth zeigt ein Bild aus ihrer Kindheit, als sie für eine kurze Zeit in einem Flüchtlingsheim wohnen musste. Heute lebt die 88-Jährige in Altstätten, Kanton St. Gallen. SRF / Claudia Herzog

Dora Warths Eltern äusserten vor den Kindern nie ihre Meinung zum Nationalsozialismus. «Sie hatten Angst, wir würden es ausplaudern», so die 88-Jährige rückblickend. Später hätten die Eltern jedoch erzählt, dass sie damals unter starker Beobachtung standen.

Die Angst vor «dem Russen»

Wirklich greifbar wurde der Krieg für die Primarschülerin erst, als es regelmässig Fliegeralarm gab und als immer mehr Flüchtlinge ins Dorf kamen. Als die Front dann immer näher rückte, bekam das Dorf schliesslich im Herbst 1944 den Befehl zur Flucht.

Ein halbes Jahr war die vierköpfige Familie im immer grösser werdenden Flüchtlingstreck unterwegs, zu Fuss bei bis zu minus 20 Grad. «Von den Toten hat man die Kleider ausgezogen, damit man wieder etwas Trockenes hatte», erzählt Dora Warth.

Die Flucht vor «dem Russen», wie sie sagt, war nicht von Erfolg. Beim Kriegsende landete die Familie im von den Russen besetzten Gebiet. Fast ein Jahr harrte sie mit Dutzenden weiteren Flüchtlingen in einem Heustock in Sachsen aus.

Die damals 13-Jährige erlebte dabei Nacht für Nacht, wie die Russen im Siegesrausch Frauen vergewaltigten. «Mein Vater lag jeweils im Heu auf meine Mutter und uns Mädchen, damit sie uns nicht sehen konnten.»

Ältere Frau steht im Schatten eines Baumes
Legende: Trotz allem: Die schlimmen Erlebnisse während der Flucht hätten sie nicht negativ geprägt, sagt Dora Warth: «Man muss die Vergangenheit stehen lassen, sonst kommt man nicht weiter im Leben.» SRF / Claudia Herzog

Filmreife Fahrt nach Westberlin

Durch einen Zufall erfuhr der Vater von einem improvisierten Schweizer Konsulat in einem Keller in Dresden. Dort weihte man sie in einen geheimen Plan ein.

Eines Nachts wurden sie in einem abgelegenen Riedgebiet, zusammen mit einigen andern Auslandschweizern, von amerikanischen Soldaten abgeholt. Die Amerikaner hatten russische Transportfahrzeuge und russische Uniformen und fuhren sie unter Beschuss mit rasendem Tempo über die Grenze nach Westberlin.

Kaum Hilfe vom Vaterland

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Das Verhalten der offiziellen Schweiz gegenüber den Rückwanderern ist noch kaum aufgearbeitet. Historikerin Sabine Hofmann erforschte vor einigen Jahren die Situation der Auslandschweizerinnen im damaligen Ostpreussen und wertete unter anderem den offiziellen Schriftverkehr mit dem Konsulat vor Ort aus. Sie kommt zum Schluss, dass der Bundesrat die Situation lange falsch einschätzte.

Die Auslandschweizer im Osten Deutschlands konnten zu ihrem eigenen Schutz einen sogenannten konsularischen Schutzbrief beantragen. Dieser erwies sich jedoch in den meisten Fällen als nutzlos. Und auch als der grosse Teil der Auslandschweizerinnen zusammen mit der deutschen Bevölkerung floh, gelang es der Schweiz lange nicht, ihre Leute bei der Rückkehr in die Schweiz zu unterstützen.

Von den Rückwanderern an der Schweizer Grenze sei die Schweiz überrumpelt gewesen und habe in aller Eile Quarantäne- und Rückwandererlager errichten müssten, so Hofmann. Die Rückkehrer seien nicht gerne gesehen gewesen.

Tatsächlich bedeutete die Rückkehr von über 70'000 Auslandschweizern für die Schweiz eine grosse Belastung. Aus Deutschland waren es allein im Jahr 1945 fast 10'000, viele von ihnen komplett mittellos und auf finanzielle Hilfe angewiesen.

Sabine Hofmann: Schweizer in Ostpreussen am Ende des Zweiten Weltkrieges: Schutzmassnahmen und Heimschaffungsbemühungen der Schweizer Regierung, 1944-1948. VDM, 2009.

Im grossen Flüchtlingslager in Berlin Tempelhof konnte Dora Warths Familie einige Zeit übernachten. Am Tag mussten sie helfen, die Strassen freizuräumen.

Schliesslich wurden sie als Schweizer «aussortiert», wie sie sagt, und kamen in ein weiteres Flüchtlingslager nach Hannover. Von dort, nach zwei Jahren auf der Flucht, erreichten sie Ende 1946 mit einem Extrazug die Schweiz.

«Gottseidank», habe sie gedacht, «jetzt kommt man in die Schweiz. Dort gibt es keinen Krieg.»

Quarantäne und Beschimpfungen in der Schweiz

In der unbekannten Heimat des Grossvaters kamen sie zunächst in ein Quarantänelager. Sie wurden entlaust, «gefegt» und neu eingekleidet, wie sie sagt.

«Das war bitter nötig. Wir hatten Krätze. Man musste den Dreck einweichen, es war furchtbar», erzählt Dora Warth.

1945 – Kriegsende in Europa

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Legende: SRF

Vor 75 Jahren im Jahr 1945 endete der Zweite Weltkrieg. Und auch die kriegsverschonte Schweiz wurde von diesem historischen Moment beeinflusst. Die frühe Nachkriegszeit ist jedoch eine spannungsvolle Leerstelle im historischen Gedächtnis des Landes.

Mit dem Schwerpunkt «1945» will SRF Fragen beantworten, Diskussionen anregen und das Verständnis für die damaligen Ereignisse fördern.

Alle bisherigen Beiträge zu «1945» und zum Kriegsende allgemein gibt es hier .

Im Gegensatz zu vielen anderen Rückkehrern blieb Dora Warths Familie anschliessend ein langer Aufenthalt in einem Rückwandererheim erspart. Der Vater fand direkt Arbeit in einem Metallwerk in Dornach und die Familie liess sich dann schliesslich in Altstätten im St. Galler Rheintal nieder.

Dort arbeitete Dora Warth mit ihrer Mutter in einer Weberei. Die verpasste Schulzeit holte sie nicht mehr nach.

«Das wäre finanziell nicht möglich gewesen. Mein Vater wurde krank, wir brauchten das Geld», erzählt sie.

Eine Hand zeigt auf ein altes Foto
Legende: In die alte, «heissgeliebte» Heimat will Dora Warth nie mehr gehen. Sie möchte ihr Dorf in Niederschlesien so in Erinnerung behalten, wie es war. SRF / Claudia Herzog

Dora Warths Vater war in einer schlechten Verfassung. Er habe die traumatisierenden Erlebnisse auf der Flucht nie richtig verarbeitet: «Er war so ein starker Mann, aber als wir in der Schweiz waren, kam der Zusammenbruch. Er konnte es nicht überwinden.»

Dora Warth selbst fand sich rasch zurecht. Auch wenn sie anfangs unter Anfeindungen litt, weil sie noch kein Schweizerdeutsch sprach. Zu Beleidigungen wie «Sauschwabe» habe sie jeweils einfach nichts gesagt.

Dora Warths Familie ist kein Sonderfall

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Legende: SRF / Cecilia Bozzoli

Dora Warths Schicksal ähnelt dem anderer Rückwanderer aus dem Osten des damaligen Deutschland. In der Audio-Serie «1945 - Auslandschweizerkinder mitten im Krieg» erzählen neben Dora Warth die Zeitzeugen Eberhard Notter und Barbara Grünwald über ihre Erlebnisse in Ostpommern und Ostpreussen. Mehr Infos zu Notter und Grünwald gibt es hier .

Von der Schweiz bekam die Familie nach dem Krieg kaum Hilfe: «Altstätten wusste nicht, was man mit den Flüchtlingen anfangen sollte.»

So habe man ihnen anfangs Leintücher spenden wollen, dabei hätten sie nicht einmal ein Bett oder eine Matratze gehabt. Die 2000 Franken, die eigentlich jede Rückwandererfamilie hätte bekommen sollen, seien bei ihnen nicht angekommen.

Dennoch hegt Dora Warth keinerlei Groll gegen die Schweiz. Und die schlimmen Erlebnisse während der Flucht hätten sie nicht negativ geprägt. «Man muss die Vergangenheit stehen lassen, sonst kommt man nicht weiter im Leben. Ich lernte meinen Mann kennen, durfte zwei gesunde Kinder haben, es war nur noch positiv.»

SRF 2 Kultur, Passage, 06.11.2020, 20:00 Uhr

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