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Bear Hug
Aus 100 Sekunden Wissen vom 23.02.2024. Bild: Universal Images Group / Getty Images
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Es bleibt kompliziert Begrüssungsrituale nach der Pandemie: Wie nah darf es denn sein?

Sich zu begrüssen, gehört zum Alltag – und ist trotzdem nicht banal. Küsschen? Umarmen? Nur «Hallo» sagen? Was jetzt? Ein Versuch der Klärung.

Bitte bleib mir fern! Wolodimir Selenskis Blick sprach Bände, als Emmanuel Macron ihm sichtlich zu nahe kam. Als der französische Präsident ihn bei einem Treffen im Juni 2022 innig umarmte, zeigte ihm Selenski die kalte Schulter.

«Lieber im Schützengraben von Sjewjerodonezk kämpfen, als Macron zu umarmen», scherzte damals die britische «Daily Mail». Die ungelenke Begrüssung sorgte im Internet für den einen oder anderen Lacher, auch wenn die Gründe für die angebliche Distanz ziemlich ernst waren.

Obwohl es in diesem Fall schief ging, sieht man die Umarmung unter Staatsmännern gefühlt häufiger: Statt sich die Hand zu reichen, umarmen sich Politiker innig. Biden tut es, Trump – und eigentlich auch Selenski, ebenfalls bekannt als der «Umarmer».

Umarmungen unter (Staats-)Männern

Dass Männer sich zusehends abklatschen und innig umarmen – und zwar auch abseits des politischen Parketts, stellte auch die NZZ kürzlich fest. Die neue «Begrüssungskumpelei», wie die Zeitung die Umarmerei nennt, sei einfach nur «affig».

Dem Handschlag die kalte Schulter zeigen, aber sich direkt in die Arme fallen – was will uns das sagen? Es könnte schlicht ein Ausdruck einer neuen Verbundenheit sein. Neu, das weiss die Soziologin Katja Rost, ist das Umarmen schliesslich nicht: «Schon seit Urzeiten umarmen sich Männer. Um abzutasten, ob das Gegenüber eine Waffe trägt – oder um körperliche Kräfte zu testen.»

Katja Rost

Katja Rost

Soziologin

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Katja Rost, geb. 1976, hat seit 2012 den Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Zürich inne. Sie studierte Soziologie an der Universität Leipzig, promovierte in Wirtschaftswissenschaften an der TU Berlin und habilitierte an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich. Ihre Schwerpunkte sind Wirtschafts- und Organisationssoziologie.

Uraltes Verhalten unter Männern also: Das sei geklärt. Wirklich neu ist eher, dass Begrüssungen uns vermehrt beschäftigen. Das hat nicht zuletzt die Corona-Pandemie zu verantworten.

Mit der Pandemie kam die Distanz

«Bye bye Küsserei», jauchzten einige, als die drei Küsschen zur Vorsicht verboten wurden. In der Krisenzeit war klar: Begrüssung – unbedingt kontaktlos. Heute – Post-Pandemie – sind viele Menschen unsicher, wie man sich denn nun begrüsst. Distanz bewahren? Nähe suchen? Oder zur Not: davonrennen, bevor es zur Begrüssung kommt?

«Die Pandemie hat uns wunderbar aufzeigt, wie schwierig das Leben sein kann», sagt die Soziologin Katja Rost – und meint es nicht zynisch. Denn: «Wir mussten uns plötzlich über Dinge Gedanken machen, über die wir sonst nicht nachdenken mussten.» So zum Beispiel auch über die Begrüssung.

Die Pandemie hat die sozialen Normen verändert.
Autor: Katja Rost Soziologin

Welche Begrüssungen mag ich? Welche sind unangenehm? «Die Pandemie hat die sozialen Normen verändert – und infrage gestellt, was als gut und nicht gut betrachtet wird.»

Katja Rost selbst stellt zwar fest, dass viele Begrüssungsrituale, die vor der Pandemie üblich waren, wieder «normal» geworden sind. Auch die drei Küsschen. Es herrsche jedoch mehr Freiheit in der Anwendung: Die Pandemie habe legitimiert, dass es in Ordnung ist, keine Küsschen zu geben oder zu erhalten.

Handschlag als Passepartout?

«Die Armlänge ist das Mass aller Dinge bei der Begrüssung», sagt Benimm-Coach Lucia Bleuler aus Erfahrung. Die Knigge-Expertin schüttelt selbst am liebsten die Hand – im Business-Kontext, aber auch unter Freunden. Küsschen gibt es von ihr nur selten bei der Begrüssung.

Lucia Bleuler

Lucia Bleuler

Coach für Auftrittskompetenz

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Lucia Bleuler ist Coach für Auftrittskompetenz und Image-Management. Sie ist unter anderem Autorin des Buches «Knigge für Leute von heute. Wie wir erfolgreicher miteinander umgehen».

Der Händedruck ist für die Expertin, die seit Corona im Zweifel auf Distanz geht, eine geeignete Standardgeste: «Man merkt beim Händedruck, wie sich das Gegenüber fühlt – und auch, ob einem das Gegenüber sympathisch ist.» Nur zu fest, aber auch zu lasch darf er nicht sein: Letzteres sei: «Eklig. Wie ein Fisch.»

Nähe geht auch auf Distanz.
Autor: Lucia Bleuler Benimm-Coach

Wenn sich aber plötzlich alle nur noch die Hand reichen – eine sterile Vorstellung? Nicht zwingend, findet Bleuler: «Man kann auch lächeln oder jemandem freundlich in die Augen schauen.» Nähe, so die Benimm-Coachin, gehe auch auf Distanz.

Und doch: Ohne physische Berührung gehe es nicht ganz, räumt die Soziologin Katja Rost ein: «Grundsätzlich sucht der Mensch körperliche Nähe. Denn Berührungen stellen ein Vertrauen her – zum Beispiel bei der Begrüssung. Sie überbrücken eine Distanz.»

Wohlfühlraum einhalten

Statt strikte und feste Begrüss-Regeln zu befolgen, gehe es vor allem auch darum, auszuhandeln, wie viel Raum eine Person brauche: «Die Frage, wie viel Nähe und Distanz es braucht, damit sich Personen wohl fühlen, ist entscheidend», erläutert Katja Rost.

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Einerseits sei es kulturell bedingt, wie viel Nähe bei der Begrüssung erlaubt sei. Wie nah beziehungsweise distanziert es bei der Begrüssung sein darf, sei aber eine Frage, die individuell unterschiedlich beantwortet werde. Unabhängig davon, was im jeweiligen Kontext erwartet werde.

Meine Tochter und ihre Freundinnen haben zur Begrüssung mit dem Hintern gewackelt.
Autor: Katja Rost Soziologin

Selbst unter guten Freunden sei eine Umarmung nicht zwingend – auch wenn sich die Personen nahe stehen und eine Umarmung quasi erwartet wird.

Ein Hallo geht auch mit dem Hintern

Sag mir, wie du grüsst, und ich sag dir, wer du bist? Dass Begrüssungsrituale auch individuell und identitätsstiftend sind, zeige sich beispielsweise bei jungen Leuten: «Junge Menschen wollen sich abgrenzen und anders sein, als die alten. Auch bei Begrüssungsritualen», sagt Rost.

Besonders während der Corona-Pandemie habe sich der Nachwuchs kreativ gezeigt: «Meine Tochter und ihre Freundinnen haben zur Begrüssung mit dem Hintern gewackelt», schmunzelt Rost. Es gehe darum, etwas zu finden, was Ältere lächerlich finden. Denn Lächerliches werde nicht kopiert, so Rost.

Wie begrüssen wir uns in 50 Jahren?

Dass die Begrüssungskultur nicht nur bei jungen Menschen kuriose Blüten treiben kann, zeigte uns die Corona-Zeit: Ellbogencheck, Gruss mit dem Fuss oder eine kleine Verbeugung – viele Gesten sind (glücklicherweise?) wieder verschwunden. Aber was wird uns die Zukunft in Sachen Begrüssung bringen?

«Ich kann mir schlecht vorstellen, dass wir zum Beispiel als Begrüssung die Stirn runzeln werden», sagt Rost. Grundsätzlich seien Begrüssungsrituale eher träge, denn sie gehören zu den sogenannten Koordinationsnormen. Das heisst: «Es ist wichtig, dass wir wissen, was in dem Moment zu tun ist.» Selbst eine Corona-Krise, die zwar an den Ritualen gerüttelt habe, habe sie dauerhaft nicht komplett verändert.

Benimm-Coach Lucia Bleuler kann natürlich auch nicht in die Zukunft schauen, sie hofft aber, dass sie nie einen Bankangestellten per Du begrüssen wird. Da soll bitte Distanz bewahrt werden.

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