Die heute über 80-Jährige stand im Zürcher Schauspielhaus bis vor Kurzem auf der Bühne: In Milo Raus «Wilhelm Tell» schilderte Irma Frei, wie sie als Kind ihrer geschiedenen Mutter weggenommen wurde und in ein Heim kam – und wie sie sich später in einer ausweglosen Situation wiederfand.
Von den Behörden platziert
Mit 17 wollte sie eine Lehre als Damenschneiderin machen: «In der Handarbeit war ich immer die Beste. Und ich wollte einmal schöne Kleider haben, in den Heimen hatte ich nie schöne Kleider gehabt.»
Die anderen Mädchen sagten mir gleich: ‹Abhauen bringt gar nichts.›
Die Schaffhauser Vormundschaftsbehörde lehnte ihren Wunsch ab und platzierte sie als Haushaltshilfe im luzernischen Rothenburg. Hier habe aber die Chemie nicht gestimmt, sagt sie rückblickend: «Es hiess, ich würde zu viele Pausen machen und Heftli lesen.»
Die Behörde wurde informiert und Irma Frei wieder abgeholt. In den Akten liest sie Jahrzehnte später: «Sie muss an dauerndes Arbeiten in einer Fabrik gewöhnt werden.»
Ein Freiheitsentzug voller Willkür
Wie Irma Frei ging es Hunderten von jungen Frauen in der Schweiz. Sie wurden in ein Heim eingewiesen und an einen Arbeitsplatz verpflichtet, ohne sich schuldig gemacht zu haben.
Es brauchte nur wenig: einem Vormund Paroli bieten, im Welschlandjahr davonlaufen oder sich gegen einen sexuellen Übergriff wehren. Diese Versorgungspraxis war oft voller Willkür und konnte sich bis 1981 halten, als der fürsorgerische Freiheitsentzug rechtlich neu geregelt wurde.
Irma Frei musste 1958 ihr «Köfferli» packen und ins katholische Marienheim im Toggenburg, das Ordensschwestern führten. Dort musste sie gleich am nächsten Tag in der nahegelegenen Spinnerei des Industriellen Emil Bührle zur Schicht antreten.
«Abhauen bringt nichts»
Der Journalist Yves Demuth hat zum Thema ein Buch veröffentlicht. Er spricht in all diesen Fällen von Zwangsarbeit. Dabei stützt er sich auf die Definition der Internationalen Arbeitsorganisation: «Zwangsarbeit liegt vor, wenn eine Person zur Arbeit gezwungen wird, ohne dass ein Gerichtsurteil vorliegt oder wenn ihr bei Arbeitsverweigerung gedroht wird.»
Solche Drohungen kursierten auch im Marienheim: «Die anderen Mädchen sagten mir gleich: ‹Abhauen bringt gar nichts. Du wirst sofort von der Polizei gesucht, aufgegriffen und in eine geschlossene Anstalt gebracht. Und da kommst du nie mehr raus.›»
Dass es Zwangsarbeit in der Schweiz gab, erstaunt, verpflichtete sich das Land doch 1941, sie zu ächten. Trotzdem blieben Hunderte von jungen Frauen in diesem fürsorgerisch-industriellen Komplex gefangen.
Ein lukratives Geschäft
Dabei profitierten Unternehmer auf Kosten von diesen jungen Frauen. Deren Lohn hatte lediglich Kost und Logis zu decken und ging direkt ans Heim, was zugleich den Staat entlastete. Es war ein gut geöltes Räderwerk, das Ordensschwestern in den Heimen am Laufen hielten.
Ein Räderwerk, das nie so gut lief wie in der Hochkonjunktur. Erst mit dem Ölpreisschock Mitte der 1970er-Jahre gingen die Lichter in den Fabrikheimen langsam aus.
Drei Jahre lang arbeitete ich in der Spinnerei Schicht. Am Schluss habe ich 50 Franken bekommen.
Die traumatischen Erfahrungen ihrer Jugendjahre belasteten die Frauen noch viel später. Irma Frei verschwieg das Erlebte ihrer eigenen Familie jahrzehntelang.
Jetzt, mit über 80, meldet sie sich zu Wort: «Drei Jahre lang arbeitete ich in der Spinnerei Schicht. Am Schluss habe ich 50 Franken bekommen. Man sagte mir noch: ‹Geh sorgfältig mit dem Geld um. Es muss reichen, bis du deinen ersten Lohn erhältst› – in der Freiheit.»