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Eine lange Geschichte
Aus Kontext vom 22.11.2018. Bild: Imago / Science Photo Library
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Fakten und Fiktion in den USA Warum viele Amerikaner an den Antichrist glauben

Hexen, UFOs und Verschwörungstheorien haben in den USA einen fruchtbaren Nährboden. Ein neues Buch erklärt, wieso.

Womöglich ist Amerika in gewisser Weise «haywired», übergeschnappt. Das jedenfalls diagnostiziert Kurt Andersen in seinem neuesten Buch.

Buchhinweis

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«Fantasyland – 500 Jahre Realitätsverlust. Die Geschichte Amerikas neu erzählt» («Fantasyland – How America Went Haywire. A 500-Year History», Kurt Andersen, Random House 2018.

Andersen, Romanautor, Kolumnist und einer der einflussreichsten amerikanischen Kulturkritiker, beschreibt, wie stark die Unvernunft die USA durchdringt. Zwei Drittel der Amerikaner, schreibt er, seien sicher, dass Engel und Dämonen aktiv in unser Leben eingreifen.

Ein Drittel glaubt an den Antichrist

Ein Drittel der Amerikaner glaubt an Hexen. Oder, dass es Naturheilmittel gegen Krebs gibt, die die Regierung zusammen mit der Pharmaindustrie geheim hält. Oder, dass wahlweise Hillary Clinton oder Barack Obama der Antichrist seien.

Um das zu verstehen, geht Andersen zurück bis ins frühe 17. Jahrhundert: «Schon die ersten weissen Amerikaner», sagt er im Gespräch, «haben inbrünstig an das Wundersame und aufregend Unwahre geglaubt. Dieses Land wurde aus dem Nichts zurechtgemacht wie ein Stück Fiktion.»

Amerika, das neue Jerusalem fantasiebegabter Siedler, die in Neuengland ihre Theokratie errichten, auf Du und Du mit Gott, dem Teufel und allen Heiligen. Weiter südlich, unten in Virginia, wollen europäische Abenteurer fest an das Paradies auf Erden glauben. An Gold, Silber, Edelsteine, die sie über Nacht unermesslich reich machen würden – auch wenn es nichts von alledem dort gibt.

Traumfabrik Hollywood

Amerika: eine Projektionsfläche für Wunschvorstellungen jeglicher Art. «Alles ist wie ein Märchen, ein religiöses, ein finanzielles – was auch immer», sagt Andersen.

Im 20. Jahrhundert erschafft Amerika die Traumfabrik Hollywood. Andersen spricht vom «Fantasie-Industriellen Komplex».

Den heftigsten zusätzlichen Schub ins Irreale bringen die 1960er-Jahre: die galoppierende Moderne, gegen die die religiöse Rechte mit der Bibel in der Hand zu Felde zieht. Der Kennedy-Mord, der die wildesten Verschwörungstheorien befeuert.

Dazu gehört auch das hyperrationale Establishment, das in Vietnam Krieg führt, während sich die linke Protest- und Gegenkultur mit dem Ruf: «Mach Dein eigenes Ding!», «Finde Deine eigene Wahrheit!» ins Zeitalter des Wassermanns verabschiedet oder wenigstens in die Gewissheit, dass grundsätzlich alles relativ ist.

Glauben, was immer man will

«Die tief verwurzelte amerikanische Anti-Establishment-Haltung», sagt Andersen, «erlaubt seit den 1960er-Jahren christlichen Kreationisten genau wie New-Age-Jüngern, die an Kristalle glauben, für wahr zu halten, was immer sie wollen. Es wurde immer schwieriger, dagegen zu argumentieren. Denn alles, was auf Glauben basiert, darf niemand wagen, als unwahr anzuzweifeln.»

Inzwischen durchdringt der Hang zum Irrationalen fast jeden Bereich der Gesellschaft. Die Finanzindustrie fantasiert, dass Risiken keine mehr sind und dass arme Amerikaner wie Reiche leben können.

Alternative Fakten

Viele horten Waffen und rennen in Camouflage umher, weil sie sich als Krieger fantasieren, die alle möglichen Feinde töten. Und schliesslich sind da wie selbstverständlich «alternative Fakten» und ein Präsident, der permanent und offensichtlich lügt.

«Das entscheidende Problem ist», so Andersen, «dass es am gemeinsamen Verständnis für elementare Fakten fehlt.» Er erklärt, dass wir uns als Gesellschaft dann nicht mehr darüber verständigen, wie wir etwa mit der Globalisierung oder mit weniger Wachstum umgehen.

In dieser Fantasiewelt, in der jeder selbst entscheidet, was wahr ist, seien wir gelähmt. «Jeder von uns muss da die Traditionen der Aufklärung, der Vernunft, der Logik, der Debatte hochhalten», sagt Andersen. Sonst seien wir erledigt.

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