Menschenrechte nützen nur etwas, wenn man ihre Anwendung auch in Strassburg vor dem Europäischen Gerichtshof einklagen kann. Das ist für Geflüchtete in Moria derzeit allerdings nicht möglich, sagt der Rechts- und Politikwissenschaftler Maximilian Pichl. Eine verheerende Situation – besonders zu Corona-Zeiten.
SRF: Verstösst es aus Ihrer Sicht gegen die Menschenrechte, wenn sich Bewohner von überfüllten Flüchtlingslagern nicht vor einer Krankheit schützen können, die tödlich enden kann?
Maximilian Pichl: Diese Pandemie ist beispiellos, es gibt noch wenig Rechtsprechung zu diesem Thema. Doch es gibt das «Recht auf Leben» nach Artikel 2 in der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in mehreren Urteilen festgestellt, dass die europäischen Staaten an die Schutzpflichten gebunden sind, die sich daraus ergeben. Das heisst, sie müssen aktiv Sorge dafür tragen, dass das Leben von Menschen geschützt wird.
Dieser Schutz beschränkt sich nicht nur auf europäische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, sondern umfasst auch Geflüchtete, die an den Grenzen in Lagern festgehalten werden.
Welche Konsequenzen haben diese Urteile, wenn es um den Schutz des Lebens geht?
Laut dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte müssen die Staaten, wenn vorhersehbar ist, dass Leben gefährdet wird, adäquate Massnahmen einleiten, um das Leben und die Gesundheit der Menschen zu schützen.
Das Problem ist, dass die Geflüchteten in diesen Camps gerade keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand haben.
Wenn das nicht geschieht, wie aktuell in den griechischen Flüchtlingslagern: Wer kann das einklagen?
Das ist genau das Problem. Recht vollzieht sich nicht aus sich selbst heraus – es muss eingeklagt werden, wenn die Staaten den rechtlichen Konsequenzen keine Folge leisten.
Das heisst?
Dass jetzt eigentlich die einzelnen Geflüchteten in den Lagern einklagen müssten, dass diese Schutzpflichtverletzung vor einem europäischen Gericht auch gerügt wird.
Das Problem ist, dass die Geflüchteten in diesen Camps gerade kaum Zugang zu einem anwaltlichen Rechtsbeistand haben werden. Dieser ist aber essenziell dafür, dass überhaupt eine Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht werden kann. Deswegen wird hier gerade den Menschen ihr Recht auf Leben und Gesundheit vorenthalten.
In der Vergangenheit konnten Geflüchtete erwirken, dass sie aus den Lagern herausgekommen sind.
Nach Ausbruch einer Pandemie müsste schnell gehandelt werden, wenn man den erwähnten «Schutz des Lebens» gewährleisten möchte. Ist der Fall einer Pandemie in der Rechtsprechung überhaupt vorgesehen?
Es gibt beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein Instrument von Eilverfahren, die sogenannte «Rule 39».
In der Vergangenheit haben Geflüchtete, die etwa in Moria kaserniert waren, bereits vor dem Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte im Eilrechtsschutzverfahren gewonnen.
Was haben Sie konkret erreicht?
Sie konnten erwirken, dass sie aus den Lagern herausgekommen sind. Das war aber immer nur für den Einzelfall möglich. Es gibt keine verallgemeinerungsfähige Rechtsprechung für alle und auch noch kein abschliessendes höchstinstanzliches Urteil zu den Bedingungen in diesen Lagern.
Und auch hier gilt: Wer keinen Zugang zu Rechtsanwälten hat, kann keinen Allrechtsschutz in Anspruch nehmen, weil niemand die Klage in Strassburg einreicht.
Es ist eine eindeutige Rechtslage gegeben, dass hier der Gesundheitsschutz nicht eingehalten werden kann. Aber um das einzuklagen, fehlt jetzt eben die effektive anwaltliche Vertretung der Betroffenen.
Das Gespräch führte Irene Grüter.