In seinem neuen Buch «Identity – The Demand for Dignity and the Politics of Resentment» sucht der amerikanische Politologe Francis Fukuyama nach Erklärungen, weshalb die Demokratie in die Krise geraten ist und autoritäre Regime im Aufwind sind. Er erklärt das damit, dass Teile der Gesellschaft von der Angst umgetrieben sind, ihre Identität zu verlieren. Sie finden in der grossen Gemeinschaft zu wenig Anerkennung und Respekt für ihre Gruppe.
Fukuyama zählt nicht nur Rechtspopulisten zu diesen Gruppen, auch religiöse Fundamentalisten, Feministinnen und schwarze Bürgerrechtler gehören für ihn dazu. Eine Gefahr sieht er darin, dass der soziale Zusammenhalt verloren geht und die Gemeinschaft in immer kleinere Gruppen zerfällt. Als Lösung schlägt Fukuyama vor, dass sich Gesellschaften wieder unter einem grösseren Dach zusammenfinden, einer nationalen Einheit.
SRF: In Ihrem Buch sprechen Sie von der Zersplitterung unserer Gesellschaft. Um dem entgegenzuwirken schlagen Sie vor, dass wir unsere Identität wieder stärker über die jeweilige Nation definieren. Warum keine europäische Identität?
Francis Fukuyama: Die Gründer der Europäischen Union sahen in nationalen Identitäten ein Feindbild. Aggressiver Ethno-Nationalismus hatte zu zwei Weltkriegen geführt. Die EU war darauf ausgelegt, die nationalen Identitäten der Mitgliedsstaaten durch eine Art pan-europäische Identität zu ersetzen. Diese noble Idee war in bestimmten Bereichen auch spektakulär erfolgreich. Ein Krieg zwischen Deutschland und Frankreich ist heute sehr unwahrscheinlich.
Ein blosses Bekenntnis zu politischen Grundsätzen reicht wohl nicht aus, um ein Land zusammenzuhalten.
Es entstand aber nie eine echte europäischen Identität, welche die Identitäten der einzelnen Mitgliedsländer ersetzen konnte. Die Eurokrise brachte dieses Versagen zum Vorschein. Ein starkes Gefühl der Zugehörigkeit zu Europa wäre schön, aber im Moment halten wir an unseren nationalen Identitäten fest. Das ist auch wichtig, denn man muss die Menschen integrieren.
Was halten Sie von der Idee einer nationalen «Leitkultur»?
Das hängt davon ab, was mit «Leitkultur» gemeint ist. Der Begriff stammt von Bassam Tibi, einem syrischen Professor, der in Deutschland ausgebildet wurde. Er verstand darunter eine Kultur, die nicht von der Religion oder tief verankerten kulturellen Gewohnheiten geprägt ist, sondern von einem Bekenntnis zu den Werten der Aufklärung. Leitkultur ist mehr als ein Bekenntnis zur Verfassung.
Pluralismus meint nicht einen Pluralismus der Kulturen, sondern einen Pluralismus der Individuen.
Dazu gehört auch der Glaube an die westlichen Werte, die modernen Demokratien zu Grunde liegen. Ein blosses Bekenntnis zu politischen Grundsätzen reicht wohl nicht aus, um ein Land zusammenzuhalten. Es braucht auch Rituale – Feiertage, gemeinsames Essen – und da wird es oft schwierig, weil nicht alle diese Gewohnheiten teilen.
Tatsache ist, dass heute innerhalb vieler Nationen eine kulturelle Vielfalt herrscht. Diese Vielfalt macht es nicht einfach, eine nationale Identität zu finden. Lehnen Sie deshalb den Multikulturalismus ab?
Es hängt von der Definition ab. Ich finde es problematisch, wenn man unter Multikulturalismus versteht, dass alle Kulturen gleich behandelt werden müssen. Hier werden die Grundprinzipien einer modernen Demokratie missverstanden. Pluralismus meint nicht einen Pluralismus der Kulturen, sondern einen Pluralismus der Individuen.
Die Rechte des Einzelnen übersteigen die Rechte der kulturellen Gemeinschaft, in der sie leben. In einer wahren liberalen Demokratie müssen wir deshalb nicht so sehr die Rechte der kulturellen Gruppen, sondern die Rechte des Individuums schützen. Natürlich machen wir kulturellen Gruppen Zugeständnisse, weil Menschen so leben wollen. Aber das hat Grenzen.
Also keine speziellen Rechte für kulturelle Gruppen, die über die Grundrechte hinausgehen. Sie sprechen in Ihrem Buch in diesem Zusammenhang auch von einer «Assimilation» von Zuwanderern und nicht von «Integration». Weshalb?
Ich erachte die beiden Begriffe Assimilation und Integration als sehr ähnlich. Natürlich muss auch die dominante Kultur anerkennen, dass es eine Vielfalt von Lebensformen unter ihren Bürgern gibt, die man tolerieren und akzeptieren muss.
Ich erachte Immigration als notwendig und als etwas Gutes für die meisten Länder.
Umgekehrt haben moderne Demokratien ihre eigene Kultur, in der Entgegenkommen, Toleranz, die Freiheit des Einzelnen und der Grundsatz der Gleichheit grossgeschrieben werden. Diese kulturellen Werte darf man nicht verletzen. Man darf Menschen, die mit grundsätzlich anderen Werten ins Land gekommen sind, nicht so weit entgegenkommen, dass man undemokratische Werte akzeptiert.
Migration scheint ja der Hauptgrund zu sein für diese Angst vor einem Identitätsverlust. Sie verlangen strengere Grenzkontrollen und ein besseres Verfahren für die Einbürgerung. Was genau meinen Sie damit?
Das ist ein schwieriges Thema, weil ich nicht mit Donald Trump gleichgesetzt werden möchte, auch wenn er Ähnliches sagt. Aber ich glaube nicht, dass man eine Demokratie haben kann, ohne festzulegen, wer der Souverän ist. Dafür braucht es Grenzkontrollen. Deshalb ist illegale Einwanderung problematisch.
Die Offenheit für Immigration hat dazu geführt, dass grosse Landstriche in Osteuropa entvölkert worden sind.
Ich erachte Immigration als notwendig und als etwas Gutes für die meisten Länder. Immigration führt zu Wirtschaftswachstum und kulturelle Diversität ist gut für eine Gesellschaft. Aber wenn sie unbegrenzt verläuft, und wenn die zuströmende Menge die Aufnahmefähigkeit und letztlich die Assimilations- oder Integrationsfähigkeit übersteigt, hat man ein Problem.
Das heisst, Sie würden in diesem Fall auch Kriegsflüchtlinge abweisen, wie sie etwa 2015 in grosser Zahl von Syrien nach Europa flohen?
Die Sache ist komplex. Ja, man kann nicht jeden aufnehmen und das ist aus humanitärer Sicht bedauerlich. Aber mit Blick auf die weltweite Demografie ist klar, dass sehr viele Menschen heute und in kommenden Generationen in die reichen Länder auswandern wollen. Das wird die entwickelten Gesellschaften in ihrem Überleben bedrohen, wenn es nicht gelingt, diesen Prozess so zu steuern, dass man die Menschen assimilieren kann.
Es unabdingbar, Grenzen zu sichern.
Über eine andere Seite der Migration in Europa spricht man selten. Die Offenheit für Immigration hat dazu geführt, dass grosse Landstriche in Osteuropa entvölkert worden sind. Die Ukraine, Serbien, Rumänien, Bulgarien haben in der letzten Generation 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung verloren. Oft waren es die fähigsten und am besten ausgebildeten, ehrgeizigsten Leute, die nach London, Hamburg oder sonst wohin gezogen sind.
Ein politisch komplett durchlässiges Migrationssystem ist also weder für die Herkunfts- noch die Einwanderungsländer wirklich gut.
Es überrascht mich, dass Sie angesichts der grossen Probleme wie Migration, Klimawandel, Digitalisierung, die ja klar globale Probleme sind, den Weg zurück zu Nationalstaaten und strikten Grenzen vorschlagen.
Es geht wie gesagt um ein demokratisches Grundprinzip. Eine Demokratie gründet auf der Souveränität des Volks. Man muss also wissen, wer «das Volk» ist. Deshalb ist es unabdingbar, Grenzen zu sichern. Denn wenn sich der Souverän nicht abhebt von anderen nationalen Gruppen, lässt sich eine Demokratie nicht erhalten.
Das heisst nicht, dass man kein Mitgefühl für Migranten oder Flüchtlinge hat. Es besteht auch durchaus eine moralische Pflicht, so vielen Menschen wie möglich zu helfen, aber es gibt keine unbegrenzte Verantwortung.
Das Interview ist ein gekürzter, leicht angepasster Auszug aus dem Gespräch von Yves Bossart mit Francis Fukuyama in der Sternstunde Philosophie.