Wilgefortis war eine Frau mit Bart und sie starb wie Christus am Kreuz. Wilgefortis ist mehr als ein Kuriosum. Gekreuzigte Frauen, manchmal mit Bart, tauchen in der christlichen Geschichte an einigen Orten auf.
Die Legende erzählt über Wilgefortis, dass sie auf Geheiss ihres Vaters einen heidnischen Prinzen heiraten sollte. Sie weigerte sich und bat Gott darum, nicht mehr begehrenswert zu sein.
Da wuchs ihr ein Bart und der Prinz wollte nichts mehr von ihr wissen. Wilgefortis’ Vater war erzürnt und liess seine Tochter kurzerhand kreuzigen.
Kult um die Heilige Kümmernis
Wilgefortis erhielt weitere Namen, je nach Verbreitungsort heisst sie Kümmernis oder Ontcommer. Im Süden Europas gibt es ähnliche Darstellungen solcher Figuren. Zum Teil sind diese Heiligen tatsächlich verbrieft – wie etwa die Santa Eulalia oder Santa Giulia. Allen ist gemein, dass sie als Frauen am Kreuz dargestellt werden.
Am Beispiel der Kümmernis, wie Wilgefortis im deutschsprachigen Raum genannt wird, zeigt sich, wie vielschichtig diese Frauenfiguren waren.
Die Legende und der Kult um die Heilige Kümmernis breiteten sich von den Niederlanden seit dem 15. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum aus, vor allem in Bayern und Tirol. Ihre Beliebtheit beweisen die zahlreichen schriftlichen und ikonografischen Zeugnisse aus der Zeit von 1350 bis 1848.
Hilfe bei Gewalt, Inzest und Verlusten
«Die Heilige Kümmernis wurde etwa angerufen bei Gewalt in der Ehe, bei Inzest, aber auch bei weniger traumatischen Erfahrungen wie etwa, wenn man etwas verlor», sagt die Museumsdirektorin des Frauenmuseums im österreichischen Hittisau, Stefania Pitscheider Soraperra.
Das Museum zeigt in einer Ausstellung die Geschichte der Frauen am Kreuz – vom Spätmittelalter bis heute in all ihren verschiedenen Ausprägungen.
Besondere Popularität erlangt die Kümmernis mit dem Aufkommen der Beginen. Diese Frömmigkeitsbewegung ermöglichte auch Frauen ausserhalb der Klöster ein spirituelles Leben. «Sowohl für Nonnen aber eben auch für Beginen diente die Kümmernis als Hilfe dabei, ihr spirituelles Ziel zu erreichen: die Union mit Christus», so Stefania Pitscheider Soraperra.
Schutzpatronin der LGBTQ-Gemeinschaft
Die Meditation über einer gekreuzigten Frau statt eines gekreuzigten Mannes war für die Frauen einfacher: «Es fand eine Art spiritueller Geschlechterwechsel statt», sagt die Museumsdirektorin. Natürlich habe das nicht der offiziellen Lehrmeinung der Kirche entsprochen.
Doch wer hätte das im Mittelalter in all den entlegenen Dörfern überprüfen können?, fragt Pitscheider Soraperra. «Darum gibt es zum Beispiel auch eine Darstellung aus der Wildschönau, auf der man eine gekreuzigte Kümmernis zusammen mit Gottvater und dem Heiligen Geist sieht – ziemlich subversiv.»
Eine Frau anstelle von Jesus in einem Bild der Dreifaltigkeit: Das ist tatsächlich subversiv. Kein Wunder ist die Kümmernis über die Jahrhunderte auch zur Figur des Widerstandes geworden: etwa gegen das Patriarchat, als Identifikationsfigur für feministische Theologinnen oder gegen Diskriminierung als Schutzpatronin der LGBTQ-Gemeinschaft.
Bärtige Frau provoziert noch heute
«Die Legende der Kümmernis, aber auch die anderen Darstellungen von Frauen am Kreuz zeigen: Es gab schon immer nonkonforme Wege und Lebensweisen», meint Stefania Pitscheider Soraperra.
Die Sängerin Conchita Wurst, die den Eurovision Song Contest 2014 gewann, hat die bärtige Frau nochmals ins Rampenlicht gerückt. Die Direktorin des Frauenmuseums ist überzeugt: «Wenn Länder wie Russland oder die Türkei dem Song Contest fernbleiben, wenn an anderen Orten Menschen wegen ihrer Sexualität verfolgt werden, sind Figuren wie die Kümmernis alles andere als überflüssig.» Das Bild der bärtigen Frau provoziert auch heute noch – rund 500 Jahre nach der ersten Kümmernisdarstellung.