«El violador eres tú» – «Der Vergewaltiger bist du», skandieren Millionen von Frauen in ganz Lateinamerika. Sie meinen damit die strukturelle Gewalt: Die Gewalt der patriarchalischen Ordnung, die den Frauen das Recht abspricht, über ihren eigenen Körper zu bestimmen und die auch von den Kirchen gestützt wird. Und sie meinen auch die ganz konkrete Gewalt zu Hause, gegen die niemand etwas unternimmt.
Nach Erhebungen der panamerikanischen Gesundheitsorganisation werden jedes Jahr etwa 58 Prozent der Kinder in Lateinamerika und der Karibik sexuell und emotional missbraucht. Frauen und Mädchen leben in einer ständigen Risikosituation – einfach nur, weil sie weiblich sind.
Unheilige Allianz zwischen Kirche und Staat
Dass der Staat ein Vergewaltiger ist, stimmt in besonderer Weise für Nicaragua. 2006 hatte die Ortega-Murillo-Regierung eine unheilige Allianz mit den Kirchen und den konservativen Parteien geschmiedet, um ihre Wiederwahl zu begünstigen.
Als eine Art Wahlversprechen verbot sie den Schwangerschaftsabbruch – auch nach einer Vergewaltigung und selbst dann, wenn Leib und Leben der meist viel zu jungen Mütter in Gefahr ist.
In Nicaragua werden jeden Tag fünf Mädchen unter 14 Jahren dazu gezwungen, ihr Kind auszutragen. Damit steht das Land neben Guatemala, Honduras, Panama und Ecuador an der Spitze mit Geburtenraten von minderjährigen Müttern. Feministischen Organisationen gehen von einer Dunkelziffer von mindestens 10'000 Vergewaltigungsopfern pro Jahr aus.
Arm und abgeschieden
Bei der Volksgruppe der Miskito an der Karibikküste verdreifacht sich die Situation der Geschlechtergewalt. Schuld sei ihre Abgeschiedenheit, ihre ethnische Zugehörigkeit und natürlich die Armut, sagt Shira Miguel Downs. Sie leitet seit 20 Jahren das Frauenhaus von Puerto Cabezas.
Hier, in der Hauptstadt der «Autonomen Region nördliche Karibikküste» suchen im Durchschnitt täglich 15 Frauen, Mädchen und Jugendliche Hilfe. Shira und ihr Team arbeiten hart daran, diesen Frauen und Mädchen Alternativen anzubieten, unter anderem mit Mikrokrediten.
Doch «ihre finanzielle Situation zwingt die Frauen dazu, die Missbrauchssituation zu tolerieren – oder zu ihren Schändern zurückzukehren», so Shira.
Die Frauen müssen sich unterordnen, um Konflikte zu vermeiden. «Dass der Ehemann das Oberhaupt der Familie ist, wird durch die Kirche bekräftigt», sagt Shira. Diese Unterordnung betrifft auch das Thema Verhütung. So verhüten manche Frauen heimlich mit einer Hormonspritze, die drei Monate lang hält. Doch für die meisten ist der Weg zum Arzt in die Stadt zu weit.
Staat ist nicht an Veränderung interessiert
Die Situation der Mädchen verkompliziert sich in den Comunidades der Miskito, den abgelegenen Orten, die mit ihrem karibischen Flair ein Paradies vorgaukeln. Hier sind die traditionellen Richter, die Wihtas, verantwortlich für Gerechtigkeit.
Doch bestraft das Gewohnheitsrecht weniger die Gewalttäter, sondern ist eher darum bemüht, die harmonischen Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft wieder herzustellen. So muss der Vergewaltiger zwar für sein Vergehen zahlen, doch hilft das weder gegen den physischen noch gegen den emotionalen Schmerz der Mädchen. Oft werden sie gezwungen, ihren Peiniger zu heiraten.
Der Staat zeigt an einer Veränderung dieser Situation kein Interesse. Gewalt und Unterordnung von Mädchen und Frauen sind in Nicaragua Teil nationaler Politik. Wen wundert das in einem Land, in dem der Präsident selbst von seiner Stieftochter bezichtigt wird, sie jahrelang missbraucht zu haben.