Der Staat trifft Entscheidungen für seine Bürgerinnen und Bürger – das ist nicht neu. Schliesslich übertragen wir ihm über das demokratische Stimmrecht die Erlaubnis dazu.
Doch jüngst sehen viele in der Pandemie die Mechanismen einer Biopolitik wirken, die nicht nur unser Verhalten beeinflussen will, sondern auch Einfluss nehmen will auf unseren Körper. Die Frage stellt sich also, wann gehen Eingriffe in unsere Körper zu weit?
«Ich denke, also bin ich» – ein Coronaskeptiker?
Aktuelles Beispiel: Die Corona-Impfung. Der Staat versucht genug Impfstoff für alle bereit zu stellen. Doch einige Bürgerinnen und Bürger möchten abwägen, ob für sie eine Impfung überhaupt in Frage kommt. Diese Haltung stösst oft auf Unverständnis.
Denn, so die andere Meinung, es müsse doch selbstverständlich sein, sich zum Wohle des Nächsten impfen zu lassen. In dieser Diskussion werde es spätestens dann kritisch, wenn jene Zweifler gleich als Coronaskeptiker abgestempelt werden, sagt Svenja Flasspöhler, Chefredakteurin des Philosophie-Magazins.
Für Flasspöhler ist klar: Wer sich kritisch zeigt gegenüber der Impfung, ist nicht automatisch ein Coronaskeptiker. Jeder Mensch dürfe denken, zweifeln und Nein sagen. Dabei müsse der Wille, sich nicht impfen lassen zu wollen, gerade in einer liberalen Gesellschaft respektiert werden.
Die Impfung als moralische Pflicht
Flasspöhler betont: «Wenn wir diese Idee von Autonomie, von Mündigkeit, Liberalismus beibehalten wollen, dann müssen wir erstmal den Menschen als für seinen eigenen Leib verantwortlich setzen». Das Recht auf die Unversehrtheit des eigenen Körpers darf also durch den Staat nicht verletzt werden.
Stefan Riedener, Philosoph am Ethik-Zentrum Zürich, stuft dagegen die moralische Pflicht höher ein: Die Impfung ist für ihn mehr als nur Selbstschutz, die ohne Rechtfertigung abgelehnt werden könne. Ohne Impfung sei die Gefahr grösser, andere anzustecken. Deshalb gehe die Immunisierung nicht nur den eigenen Körper, sondern den «gesellschaftlichen Körper» etwas an.
Eingeschränkte Freiheit ist keine Entmündigung
Klar ist: der Staat wendet bereits Freiheitsbeschränkungen an, um seine Fürsorge zu demonstrieren. Ob Maskenpflicht, Lockdown oder Helmpflicht fürs Motorradfahren: Möchte Väterchen Staat mit all dem nur das Beste für uns?
Stefan Riedener sieht das so: Solange der Eingriff in die eigene Freiheit zugunsten des eigenen Wohls geschehe, ohne fundamental gegen den eigenen Willen zu wirken, sei mit dem Begriff Entmündigung Vorsicht geboten.
Wie steht es aber mit dem sanften Zwang, wenn Bürgerinnen und Bürger durch einen positiven Anreiz zu einer bestimmten Entscheidung bewegt werden? Wenn etwa bestimmte Freiheiten für Geimpfte gelten sollen, um so die Impfung attraktiver zu gestalten. Ist das weniger entmündigend, als wenn man eine Entscheidung aufgezwungen bekommt?
Nein heisst Nein – auch für den Staat
Mündigkeit geht verloren, wenn der Mensch sich seines eigenen Verstandes nicht bedient, sagte der Philosoph Immanuel Kant. Die Frage, wem der eigene Körper gehört, hängt also immer davon ab, ob die Einzelperson von ihrer Autonomie Gebrauch macht. Wichtig sei, die Entscheidung zu hinterfragen, sagt Svenja Flasspöhler. Nur so liesse sich aus eigener Motivation heraus solidarisch an den Nächsten denken.
Riedener und Flasspöhler finden einen gemeinsamen Nenner bei der Frage, wem der Körper gehört: Der Staat darf ein fürsorglicher Vaterstaat sein. Er kann Angebote machen, die unsere Körper tangieren. Flasspöhler setzt aber voraus, dass den Einzelnen die Möglichkeit eingeräumt werden muss, Nein zu sagen. Trifft der Staat aber diese Entscheidung und übergeht den Willen der Einzelnen, ist das absolute Fremdbestimmung und kann nicht als solidarischer Akt gerechtfertigt werden.