Neulich bekam ich eine Video-Empfehlung auf Youtube: «ILLEGAL FREEDOM: Journey Across Chernobyl Exclusion Zone» . Nicht Tschernobyl weckte meine Aufmerksamkeit, sondern die versprochene «illegale Freiheit». Eine Bezeichnung, so dachte ich mir, die genau so gut zur momentanen Situation passt wie «#stayhome». Ich klickte «Play».
Warten auf Anton
Kiew, irgendwann letzen Herbst. 9 Uhr morgens. Eine Metro-Station. Shiey und sein Freund «Checkmate» warten auf Anton. Kurz darauf taucht er auf.
Der aufgestellte Jugendliche mit den roten Haaren ist ein «Stalker», ein Guide, der Gäste gegen Bezahlung illegal durch die Sperrzone von Tschernobyl führt (mittlerweile weiss ich: rund 100 solcher illegaler Führer soll es geben ). Die Parallelen zum gleichnamigen Tarkowski-Film «Stalker» sind offensichtlich.
Aber die Vermutung liegt nahe, dass sich die jungen Männer nicht etwa wegen des 40 jahre alten Science Fiction-Klassikers so nennen, sondern wegen dem Ego-Shooter-Game «Stalker: Shadow of Chernobyl».
«Wir warten noch auf das Dosimeter. Aber die Person, die es uns vermietet, ist etwas misstrauisch», berichtet Shiey. Kein Wunder. Denn wozu wohl will ein kaum 20-Jähriger aus Kiew für ein paar Tage seine Strahlendosis messen?
Nachdem die drei ihre Rücksäcke gepackt haben, ziehen sie los. Und ich mit ihnen, denn ein grosser Teil ist mit einer GoPro-Kamera aus der Ich-Perspektive gefilmt.
Freiheit in der Sperrzone
Zweieinhalb Stunden später: Ich habe mit den Jungs einen Fluss durchquert, um in die Zone zu kommen. Bin auf das bekannte, rostige Riesenrad geklettert. Habe mich vor Touristen versteckt. Wurde in der Unterkunft in einem alten Wohnblock von anderen «Stalkern» überrascht. Und habe äusserst fragwürdiges Regenwasser aus dem Keller eines Hauses getrunken.
Natürlich habe ich das nicht gemacht, aber die unmittelbare Erzählweise hat die eigenen vier Wände ein bisschen zur Sperrzone gemacht (was sie irgendwie momentan ja auch ist).
Viel gelernt dabei habe ich nicht. Und die trockenen Kommentare von Shiey nerven mit der Zeit. Und dennoch: Die zweieinhalb Stunden Slow-TV waren überraschend faszinierend. Nicht nur wegen den waghalsigen Einlagen auf dem rostigen Duga-1-Radarsystem in 150 Metern Höhe. Sondern auch, weil man ein anderes Tschernobyl erleben kann.
Ein Tschernobyl jenseits der TV-Dokumentationen und Hochglanz-Reportagen. Man sieht auch hier verlassene Wälder, stille Natur, Müll, Rost und den langsamen Zerfall des vom Menschen Gemachten. Aber neu kann man erleben, wie diese postapokalyptische Zone zum Spielplatz und kleinen Business für einen Kreis junger Ukranier geworden ist.
Wir haben dem obenstehenden Artikel weitergehende Informationen zu Dokumentationen zur Sperrzone von Tschernobyl hinzugefügt und die Empfehlung und Verlinkung zu weiteren Produktionen von Youtuber Shiey entfernt. Diese zu empfehlen erschien uns nachträglich fragwürdig. Entsprechend haben wir den Artikel neu der Rubrik Gesellschaft und nicht der Artikelreihe «In diesen Zeiten» zugeordnet.