Der US-Historiker Timothy Snyder begnügt sich nicht damit, im stillen Kämmerlein zu forschen. Er mischt sich in die öffentliche Debatte ein.
In den letzten Jahren – und vor allem seit der Wahl von Donald Trump – ist der Professor für osteuropäische Geschichte an der Yale University in den USA zum öffentlichen Mahner geworden: Er warnt vor autoritären Systemen, die unsere liberalen Demokratien bedrohen.
Wir befänden uns auf dem «Weg in die Unfreiheit», so seine Überzeugung – und so auch der Titel seines neusten Buches. Snyder weiss, wovon er spricht. Der Experte für totalitäre Systeme hat den Faschismus und den Kommunismus gründlich erforscht.
Snyder sagt, Geschichte sei ein fortlaufender Prozess mit offenem Ausgang. Die liberale Demokratie könne durchaus einmal zu Ende sein: «Wir sind umgeben von Ideen. Wir mögen in Bern oder in Helsinki den Eindruck haben, dass die ideologischen Kriege vorüber sind. Das sind sie nicht.»
«Politik der Ewigkeit»
In den letzten zehn Jahren hätten insbesondere rechte Ideen einen Aufschwung erlebt. «Politiker haben begonnen, weniger über die Zukunft und über konkrete Politik zu sprechen. Sie sprechen lieber über die Vergangenheit, über ewige Kreisläufe und darüber, ewiges Opfer zu sein.»
Snyder nennt dies die «Politik der Ewigkeit»: «Es ist eine Politik, die den Menschen einredet, dass eine Zukunftsplanung unwichtig ist, sondern dass es darum geht, wer recht und wer unrecht hat. Und dass sich alles auf einen Konflikt zwischen zwei Seiten reduzieren lässt: auf einen Konflikt zwischen ‹uns› und ‹den Anderen›.»
Gemäss seiner Analyse ist Russland als erstes Land auf die «Politik der Ewigkeit» umgeschwenkt. Russland sei zu einem Vorbild für andere geworden und versuche, dieses Politikmodell zu verbreiten.
Herrschaft der Reichen
Zu denken, wir erlebten zurzeit eine Neuauflage der 1930er-Jahre, hält Snyder aber für falsch. Faschistische Ideen seien zwar zurück, aber die Logik sei eine andere: Leuten wie Wladimir Putin gehe es vor allem darum, der Bevölkerung eine Erklärung dafür zu liefern, warum alles so bleiben soll, wie es ist.
Faschistisches Gedankengut soll helfen, eine Herrschaft der Reichen zu legitimieren: «Sie wollen uns einreden, dass es normal ist, dass einige wenige Menschen alles Geld besitzen. Dass es normal ist, dass es keinen sozialen Fortschritt gibt. Denn Politik dreht sich laut diesen Ideen um Tugenden, um Sexualität – und nicht um konkrete Massnahmen.»
Faschistische Ideen sind zurück
Faschistische Ideen seien zurück in dem Gerede von «wir gegen sie» – mit dem Zweck, einen Feind zu definieren. Faschistische Ideen kämen auch in der Vorstellung zurück, dass es eine enge Verbundenheit eines Führers mit seinem Volk gebe. Und faschistische Ideen seien zurück als fundamentales Infragestellen der Aufklärung, der Wahrheit und der Existenz von Tatsachen überhaupt.
Aber all dies habe nicht etwa den Zweck, die Menschen auf die Strassen zu treiben oder in einen Krieg zu führen: «Es dient dem Zweck, uns auf dem Sofa zu halten und uns das Gefühl zu vermitteln, wir seien auf der richtigen Seite.» Damit die herrschenden Reichen ungestört ihre Macht ausbauen und den Rechtsstaat weiter beschädigen können.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 26.9.2018, 9.00 Uhr