Zum Inhalt springen

Freundschaft unter Feinden Wie ein Israeli und ein Palästinenser für Frieden kämpfen

Rami Elhanan und Bassam Aramin haben im Nahostkonflikt beide ein Kind verloren. Seither leben die zwei für eine Vision, die viele Feinde hat.

Es ist mucksmäuschenstill in der Aula der Kantonsschule Zürich Unterland in Bülach. 300 Teenager hören zu, wie der Palästinenser Bassam Aramin und der Israeli Rami Elhanan ihre Geschichte erzählen. Die Geschichte, wie ihre Töchter getötet und sie dadurch zu Friedensaktivisten wurden.

Elhanans Tochter Smadar war 14 und wollte sich nach der Schule in der Jerusalemer Innenstadt für einen Jazztanzkurs einschreiben, als ein Selbstmordattentäter eine Bombe zündete. Er riss Smadar, ihre Freundin und fünf weitere Menschen mit sich in den Tod.

Wir wollen Zweifel daran säen, dass alle Palästinenser oder alle Israelis böse sind.
Autor: Rami Elhanan

«Ich war unglaublich wütend», erinnert sich Elhanan. Was macht einen Menschen derart verzweifelt, dass er sich und ein 14-jähriges Mädchen in die Luft sprengt, fragte er sich. «Ich brauchte dafür eine Erklärung, ich musste dem Ganzen einen Sinn geben.»

Gemeinsames Leid als Wendepunkt

Elhanan liess sich überreden, andere Eltern zu treffen, die im Konflikt ein Kind verloren haben – israelische und palästinensische. Dieses Erlebnis veränderte sein Leben. Zum ersten Mal habe er Palästinenserinnen und Palästinenser nicht als Terroristen oder einfache Arbeitskräfte wahrgenommen, sagt Rami Elhanan, «sondern als Menschen, die denselben Schmerz empfinden wie ich.»

Das Treffen habe ihm die Augen geöffnet. Es war der Anfang seines Engagements für die Friedensorganisation «Parents Circle».

Zwei Männer in einer Kirche.
Legende: Friedensaktivisten Rami Elhanan (rechts) und Bassam Aramin: Beide haben sie Schlimmes erlebt – und doch den Glauben an eine bessere Welt nicht verloren. Markus Trenkle

Zur gleichen Zeit, man schrieb das Jahr 1997, war der Palästinenser Bassam Aramin noch weit davon entfernt, Friedensaktivist zu sein. Als Teenager warf er Handgranaten auf einen israelischen Militärjeep. Die Granaten waren defekt, niemand kam zu Schaden. Doch Aramin musste für sieben Jahre ins Gefängnis.

Dort begann er, sich mit Sprache und Geschichte der Israelis zu befassen. «Ich wollte meine Feinde besser kennenlernen», erzählt der Palästinenser. Dabei habe er realisiert, dass vieles, was er über sie zu wissen glaubte, nicht stimmte. Es war der erste Schritt auf die Gegner zu.

Erschossen beim Kaufen von Süssigkeiten

Als Aramin aus dem Gefängnis entlassen wurde, entschied er sich, an einem Treffen mit ehemaligen israelischen Soldaten teilzunehmen. Dort erlebte er, was er nicht erwartet hatte: «Wenn du das menschliche Antlitz deines Feindes erkennst, ist das ein Desaster. Denn dann ist er nicht mehr dein Feind.»

Aus dem Treffen entstand die Nichtregierungsorganisation «Combatants for Peace». Für Bassam Aramin war es der Beginn seines Engagements für den Frieden.

Zwei Männer sitzen vor den Fotografien zweier Mädchen.
Legende: Sie werden als Nestbeschmutzer und Verräter beschimpft: Bassam Aramin und Ramin Elhanan vor den Fotos ihrer ermordeten Töchter. Markus Trenkle

Doch zwei Jahre später wurde Bassam Aramins Tochter Abir getötet. Sie wollte nach der Schule Süssigkeiten kaufen, als ihr ein israelischer Soldat mit einem Gummigeschoss in den Hinterkopf schoss. Abir, zehn Jahre jung, war eine gute Schülerin, wie ihr Vater liebevoll erzählt. Sie starb wenig später im Spital.

«Uns schlägt viel Hass entgegen»

Wie gelang es Aramin, nach dem Tod seiner Tochter der Friedensarbeit treu zu bleiben? «Ich habe keine Sekunde daran gedacht, aufzuhören», sagt Aramin. «Ein Soldat hat meine Tochter getötet. Doch 100 ehemalige Soldaten, die ich von der Friedensarbeit kannte, kamen, um mir beizustehen und in ihrem Gedenken einen Spielplatz aufzubauen.»

Drei Tage nach Abirs Tod trat Aramin ebenfalls dem «Parents Circle» bei, der Friedensorganisation, in der sich der Israeli Rami Elhanan engagierte.

Zwei Männer umarmen sich.
Legende: Eine Umarmung kann der erste Schritt sein, dem Dialog Hand zu bieten: zwei Aktivisten, die ihr ganz persönliches Drama zusammenführte. Markus Trenkle

Heute besuchen die beiden gemeinsam palästinensische und israelische Schulen. Sie wollen das Verständnis fördern und Vorurteile aufbrechen. Die beiden Gesellschaften sollen sich wieder annähern und ins Gespräch kommen. Dabei stossen sie auf heftigen Widerstand. Sie werden als Nestbeschmutzer und Verräter beschimpft.

«Wenn du das Klassenzimmer betrittst, ist es, als ob du in den offenen Schlund eines aktiven Vulkans spazieren würdest», erklärt Rami Elhanan. Für palästinensische Kinder ist der Israeli ein brutaler Unterdrücker, während der Palästinenser Bassam Aramin für israelische Schülerinnen und Schüler ein Terrorist ist.

«Uns schlägt viel Hass entgegen», sagt Bassam Aramin, «aber das musst du aushalten.» Rami Elhanan sagt auch: «Wir wollen Zweifel daran säen, dass alle Palästinenser oder alle Israelis böse sind.» Wenn es gelinge, auch nur ein Kind zu überzeugen, sei das ein Wunder.

Wenig Grund zum Optimismus

Tatsächlich zeigt die Forschung, dass solche Dialogarbeit auf individueller Ebene erfolgreich sein kann. Gesamtgesellschaftlich sieht es jedoch anders aus: «Ich bin zurzeit wenig optimistisch, was den Friedensprozess angeht», sagt Dana Landau, Friedensforscherin bei der Stiftung swisspeace. Es sei nicht gelungen, die breitere Bevölkerung mit solchen Initiativen zu erreichen.

Es gebe immer weniger Menschen, die an Friedensdemonstrationen teilnähmen, sagt Friedensforscherin Landau. «In Israel haben zudem Parteien, die klar für Verhandlungen mit den Palästinensern und für einen Palästinenserstaat einstehen, bei Wahlen kaum Chancen.» So habe sich in Israel gerade die rechteste Regierung gebildet, die das Land je kannte.

In den Palästinensergebieten sieht es nicht besser aus. Dort sind Bewegungs-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit eingeschränkt. Die Wirtschaft liege am Boden, sagt Dana Landau, die Menschen hätten wenig Aussicht auf Verbesserung.

Glaube an die Gegenseite

«Auf beiden Seiten herrscht eine grosse Desillusionierung», sagt die Friedensforscherin. «Viele sind der Meinung, dass der Friedensprozess in den 1990er-Jahren nichts gebracht hat oder die Situation sogar verschlimmert hat.» Deshalb seien die wenigsten bereit, auf die Gegenseite zuzugehen.

Wir schlagen Risse in die Mauer.
Autor: Rami Elhanan

Rami Elhanan und Bassam Aramin sind sich dessen bewusst. «Wir schlagen mit unseren Köpfen gegen diese Mauer aus Hass und Angst, die unsere Gesellschaften trennt», sagt der Israeli Rami Elhanan.

Statt daran zu verzweifeln, fügt er an: «Wir schlagen Risse in die Mauer, die sie schlussendlich zum Einstürzen bringen wird.» Bassam Aramin ergänzt: «Auch wir haben manchmal Zweifel. Doch den Glauben an den Frieden verlieren wir nie.»

Rami und Bassam – Eine wahre Geschichte

Box aufklappen Box zuklappen

Die Geschichte von Bassam Aramin und Rami Elhanan steht im Zentrum des Romans «Apeirogon» von Colum McCann, der 2020 im Rowohlt Verlag erschien.

 

Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 30.12.2022, 09:03 Uhr

Meistgelesene Artikel