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Gesellschaft & Religion Für eine Woche obdachlos: Wind, Wetter und abschätzige Blicke

Gegen fünf Uhr morgens sei es am kältesten geworden, erzählt Patrick Schwarzenbach (29), Pfarrer der St. Galler Landeskirche: «Ich schätzte rasch die isolierende Wirkung von Karton.» Im Rahmen des Projektes «Streetretreat» verbrachte Schwarzenbach fünf Tage und zwei Nächte auf den Strassen Berns.

Patrick Schwarzenbach, wie kommen Sie dazu, als gut verdienender Pfarrer in Bern Bettler zu spielen?

Ein junger Mann mit grauem Kittel sitzt vor einem Haus.
Legende: Wieder geduscht und frisch gekleidet: Patrick Schwarzenbach. Deborah Sutter/SRF

Ich würde das, was wir gemacht haben, nicht «Bettler spielen» nennen. Vielmehr ging es einerseits darum, sich in ein Leben einzufühlen, das dem eigenen so ganz fremd ist. Wir in die Gesellschaft Integrierten kennen ja kaum mehr als Klischees zu Obdachlosen. Andererseits spielt die spirituelle Tradition mit hinein, sich von Besitz und Heimat zu lösen, um sich dem Göttlichen zu öffnen. Ich wollte nicht ein Lifestyle-Erlebnis für vom Leben Gelangweilte bieten – sondern eine Innenperspektive eines so genannt bedürftigen Lebens.

Was haben Sie während dieser Zeit auf der Strasse erlebt?

Die Solidarität, die uns nach anfänglicher Skepsis von den anderen Obdachlosen entgegen getragen wurde, war schön. Eine Frau brachte uns beispielsweise Gipfeli. Doch vonseiten der Passanten spürte ich eine grosse Ablehnung. Das war für mich persönlich das Schlimmste: Dieses Nicht-gesehen-werden und das Gefühl zu haben, allein durch die Anwesenheit etwas falsch zu machen. Über längere Zeit diesen abschätzigen Blicken ausgesetzt zu sein, muss ans Eingemachte gehen.

Das Projekt «Streetretreat»

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Zwischen 7. und 11. Oktober schlug sich der reformierte Pfarrer Patrick Schwarzenbach in Bern auf der Strasse durch. Drei Teilnehmer haben bei seinem Projekt «Streetretreat» mitgemacht. Dabei ging es um einen Rückzug aus der gewohnten Umgebung, eine spirituelle Praxis sowie einen Perspektivenwechsel.

Und wie haben Sie auf diese stummen Anfeindungen reagiert?

Ich erwischte mich oft dabei, wie ich beim Betteln dachte: ‹Dann gib mir doch nichts, du Löli›. Ja, ich merkte, wie dünn diese Schicht der Kultiviertheit eigentlich ist. Im geschützten Alltag ist es einfach, sie aufrechtzuhalten. Geht es aber ums Überleben, treten schnell andere, weniger edle Seiten hervor.

Hat sich denn Ihr Bild von Obdachlosen durch das Projekt verändert?

Definitiv. Gab ich früher einem Bettler Geld, schwang die arrogante Haltung mit, genau zu wissen, wofür er das Geld braucht – nämlich Bier oder Drogen. Heute weiss ich, dass ich keine Ahnung habe von den Geschichten dahinter und mir die Geringschätzung sparen kann. Ich sehe heute den Menschen und nicht einen mühsamen Bettler.

Eine Woche auf der Strasse zu leben ist ja nicht gerade lange – können Sie wirklich nachvollziehen, wie Obdachlose leben?

Nein, wir haben höchstens eine Ahnung davon bekommen, was es heissen muss. Denn wir sahen erst gegen Ende der Woche schmuddelig aus und rochen nicht mehr so frisch. Und da merkte ich, dass die Ablehnung noch einiges stärker werden kann. Als ich etwa einen Laden betrat, hatte ich das Gefühl, ich werde besonders genau beobachtet, damit ich auch ja nichts klaue. Vielleicht habe ich mir das auch nur eingebildet, da ich mich selber nicht mehr wohl gefühlt hatte. Denn Selbstwertgefühl hängt auch von so banalen Dingen wie gewaschenen Haaren und sauberen Kleidern ab.

Ist eine Weiterführung des Projektes geplant?

Meine Bilanz der Woche ist durchaus positiv. Wir alle erlebten Bern als eine warmherzige Stadt, wurden etwa auch einmal von Passanten zum Kafi eingeladen. Ob es eine Wiederholung gibt, steht aber noch nicht fest. Das Projekt hat so stark polarisiert, ich weiss nicht, ob ich mich dem ein zweites Mal aussetzen soll.

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