Gebote rund um Ernährung - Ist das wahre Essen die neue Religion?
Mit dem Essen verbinden sich Heilsversprechen, die einst Religionen offerierten: Gesundheit, Reinheit und moralische Integrität. Der Tanz ums richtige Essen hat eine Kehrseite: Das gemeinsame Mahl wird kompliziert.
Einst assen wir, um Grundbedürfnisse zu befriedigen. Doch Hunger und Durst rücken gerade in dieser Jahreszeit in den Hintergrund. An ihre Stelle tritt die grosse Inbrunst, mit der das Kochen und Essen betrieben wird.
Eine Inbrunst, die man durchaus als «religiös» bezeichnen kann. Denn sie folgt gewissen Regeln, Ritualen und Geboten. Was und wie wir kochen, die Vorgänge am Esstisch: alles hoch ritualisiert.
Dabei inspirieren wir uns bei den Zeremonienmeistern und Hohepriesterinnen von TV-Küchen und angesagten Food-Tempeln. Die Inszenierung ist ein entscheidender Teil. «Spitzengastronomie spielt ständig mit Ritualen, die grosse Ähnlichkeit haben mit der kirchlichen Liturgie», unterstreicht der Food-Kolumnist Christian Seiler.
Risotto von Christian Seiler
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Der österreichische Journalist und Buchautor Christian Seiler schreibt seit vielen Jahren eine wöchentliche Food-Kolumne im «
Magazin
». In seinem Buch «Alles Gute – Die Welt als Speisekarte» (Echtzeit Verlag 2019) versammelt er seine kulinarischen Entdeckungen rund um die Welt.
«Viele Mahlzeiten haben eine spirituelle Komponente. Das kann ein Glas Riesling aus dem Rheingau sein, ein weiches Ei nach ein paar Fasttagen, eine dichte Gemüsesuppe oder ein Teller Safranrisotto ohne jede weitere Dekoration.
Das Spirituelle entsteht aus der Versenkung in den einfachen Geschmack, in den bewussten Genuss von etwas Vertrautem. Im Gegensatz etwa zu den spektakulären Schichtungen von Aromen und Texturen in der Spitzengastronomie, die auf das Spektakuläre, die Sensation abzielen.»
Schon der Einkauf ist geprägt von Geboten. Je nach Ausrichtung gilt: Verwende reine Rohstoffe, keine Industrieprodukte! Meide Pestizide und kaufe Bio! Iss Dinge aus der Region, aus den Alpen, vom Bauernhof! Kaufe nur glückliches Fleisch – oder besser: keines!
Der Tanz um das richtige Essen mit den richtigen Zutaten verspricht mehr als Genuss. Er bedient Sehnsüchte, für die lange Zeit Religionen zuständig waren.
Seiler drückt es so aus: Wenn er einen neuen oder vollendeten Geschmack auf einem Teller erlebt, öffnet sich ihm eine «neue Dimension», die sich in sein Gedächtnis eingräbt.
Und schon sind wir bei den grossen Fragen. Was öffnet sich hier genau? Wie schmeckt diese Dimension? Welche Sehnsucht befriedigt sie?
Es(sen) ist kompliziert
Höchste Zeit also, dass wir uns überlegen, was wir täglich in uns hineinschaufeln. Welche Auswirkungen hat unsere Ernährung auf das Klima, auf das Leben und Sterben von Tieren, auf uns selbst?
Noch immer belegt die Schweiz punkto Fleischkonsum Spitzenplätze in Europa. Doch in den Kochtöpfen von Kantinen, Restaurants und Haushalten brutzelt immer mehr Vegetarisches, Biologisches, Vollkörniges.
Wir kennen die Stossseufzer vor jeder Einladung: Wer isst vegan, flexitarisch, frutarisch, laktose- oder glutenfrei und so weiter? Koscher oder halal? Essen verbindet, aber Essen trennt auch. Es verbindet die Gruppe, welche die gleichen Rituale und Glaubenssätze teilt. Es trennt die Gruppe jedoch von jener mit anderen Ritualen, Geboten und Glaubenssätzen. Das Essen über den eigenen Tellerrand hinaus wird immer komplizierter.
Essen inklusiv gestalten
Die Spitzenköchin und «Grande Dame der Bioküche» Vreni Giger widerspricht. Sie hält das gemeinsame Essen und die Toleranz hoch. Sie möchte niemanden auf Grund seiner Ernährung beurteilen.
Jede und jeder soll das essen, was sie oder er mag und kann. Veganerinnen oder Menschen mit Allergien dürften nicht abgestempelt werden. Giger plädiert für eine inklusive Gastronomie, die sich den Bedürfnissen anpasst.
Kräuterquark von Vreni Giger
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Die Appenzeller Spitzenköchin Vreni Giger hat lange Jahre als Küchenchefin im «Jägerhof» in St. Gallen zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Sie erhielt 17 Gault Millau-Punkte, 2003 wurde sie als erste Frau Schweizer Köchin des Jahres. Sehr früh hat sie angefangen, biologisch zu kochen. Seither gilt sie als «Grande Dame der Bioküche» und ist heute Gastgeberin im Bistro Rigiblick in Zürich.
«Bei Gschwelten mit Käse, Kräuterquark und guter Butter wird das Zusammensein und die Gemeinsamkeit gefeiert. Alles steht auf einem Tisch, es wird geteilt und weitergereicht. Ein einfaches Gericht, das für mich eine Art Spiritualität ausdrückt.»
Kräuterquark:
100 g trockenen Vollmilchquark (am besten lässt man den Quark über Nacht in einer Windel abtropfen)
50 g Crème Fraîche
1 Knoblauchzehe
Je ein Bund Schnittlauch, Petersilie und Kerbel
Salz, Pfeffer und Zucker
Die Kräuter fein schneiden, den Knoblauch pressen und alles mit dem Quark und dem Sauerrahm mischen. Mit Salz, Pfeffer würzen und wenn nötig eine Prise Zucker dazu geben. Den Kräuterquark einen halben Tag ziehen lassen.
Genau das kritisiert Seiler: Dass viele Menschen essen, was sie wollen, sei Teil des Problems. Der Konsum von billigem Fleisch aus industrieller Massenproduktion trage zur Klimakrise bei. Das Umdenken sei ein Fortschritt. Auch er spottete früher über Fleischersatzprodukte und Vegi-Metzgereien. Heute freut er sich darüber, dass viele Menschen auf vegetarisch umstellen.
Zurück zu den grossen Fragen: Der Philosoph Ahmad Milad Karimi erzählt von einer Idee aus der islamischen Mystik. Da Gott mit der Ratio nicht zu erkennen ist, öffnet sich in dieser Tradition der Zugang zu Gott auf einem anderen Weg: durch den Geschmack. Gott schmecken: Eine Art Metapher für das Unverfügbare. Eine kulinarische Antwort auf den spirituellen Hunger.
Grüner Tee von Milad Karimi
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Ahmad Milad Karimi flüchtete einst als 13-jähriger afghanischer Junge mit seiner Familie nach Deutschland. Heute ist er Professor am Zentrum für Islamische Theologie in Münster, Buchautor und Koranübersetzer. Aktuell moderiert er Sendungen der «
Sternstunde Religion
». In seiner nächsten Sendung (SRF1, 19.12.2022, 10:00 Uhr) wird er den ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck begrüssen.
Sein kulinarisch-spiritueller Tipp:
«Nicht nur in fernöstlichen spirituellen Traditionen wird der grüne Tee besonders geschätzt, sondern auch in Zentralasien, im Iran und in Afghanistan. Dort gehört er zum Ritual des Lebens. Der Tee entschleunigt den Lauf des Lebens.
Er erwärmt und stiftet Gemeinschaft. Gerade seine Einfachheit, seine reinigende, entspannende und zugleich vitalisierende Wirkung hat spirituelle Bedeutung, die ritualisiert zum Menschen in Afghanistan gehört. Ob im Monat Ramadan oder an Festlichkeiten: Der Tee verbindet und vergegenwärtigt Gemeinschaft und stärkt das Wir-Gefühl.
Seine Zubereitung selbst ist ritualisiert: Zunächst wird Wasser aufgekocht. Ein Teil davon wird dann sofort auf die Teeblätter in einer Teekanne (3g grüner Tee/100 ml Wasser) gegossen. Nachdem der Tee für ein paar Sekunden im kochenden Wasser zirkuliert, wird der erste Aufguss daraufhin wieder ausgegossen, während aber die Teeblätter in der Kanne bleiben.
Das mittlerweile auf etwa 80 Grad abgekühlte restliche Wasser wird anschliessend in die Teekanne gegeben. Hinzugefügt werden drei durchgebrochene Stücke Kardamom. Nach drei Minuten ist der Tee trinkbereit.»
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