Zum Inhalt springen

Header

Zur Übersicht von Play SRF Audio-Übersicht

Gegen den Alpen-Exodus Ein Bergdorf werkelt an seiner Zukunft – mit Kunst und Kultur

Zwischen Idylle und Abwanderung: In Gitschenen, einem kleinen Ort im Kanton Uri, versucht eine Kulturgenossenschaft neue Bewohnerinnen und Bewohner ins Dorf zu bringen – mit Kultur.

Die Alp Gitschenen ist nur per Seilbahn oder zu Fuss erreichbar. 1550 Meter über dem Meer, wo die Krisen und Kriege dieser Welt es nicht hinschaffen. Und dennoch kämpft der Ort gegen die stetige Abwanderung. Noch 26 Menschen leben das ganz Jahr über in Gitschenen.

Damit die Alp nicht zur Geisterkulisse verkommt, wurde die Kulturgenossenschaft IG Maisander gegründet, benannt nach dem Hausberg. Der Alltag der Einheimischen soll mit kulturellen Veranstaltungen bereichert werden. Zugleich will die IG neue Menschen nach oben holen, die nicht nur für ein paar Ferientage bleiben, sondern langfristig in der Höhe Wohnsitz nehmen. Kann das klappen?

Kultur als Schmiermittel

«Kultur gibt Verwurzelung», sagt die Musikerin Hildegard Kleeb. Sie hat die Kulturgenossenschaft vor fünf Jahren mitgegründet. Ihr Haus, das sie zusammen mit ihrem Mann, dem Komponisten Roland Dahinden bewohnt, fungiert oft als Treffpunkt für Nachbarinnen und Nachbarn und für Menschen aus der Stadt. Die Kultur soll als verbindendes Element genutzt werden. Als Schmiermittel für den Dialog zwischen Stadt und Land, Berg und Tal. Ein Dialog, der oft als schwierig gilt.

Die IG Maisander organisiert daher jährlich drei grosse Kulturveranstaltungen, Konzerte und Lesungen, aber auch Bienentage und geführte Wanderungen durch die alpine Landschaft. Forscherinnen und Künstler finden den Weg nach oben, erzählen von ihren Arbeiten, und zeigen Werke, im Freien oder auch mal an den hölzernen Wänden eines Kuhstalls.

Wir brauchen Geschichten, um das hier auszuhalten.
Autor: Nathalie Bissig Künstlerin und Fotografin

Mehr als nur Landschaft

Auf einer Wiese, umgeben von Kühen, experimentiert der Perkussionist Emanuel Künzi mit einem 800 Meter langen Wildheu-Seil. Er wird am 13. September 2025 seine Klanginstallation am Event «Wilde Zeit» zeigen. Die Heu-Seile, die normalerweise das getrocknete Gras von den höchsten Bergspitzen gen Tal transportieren, nutzt er als überdimensionale Gitarrensaiten, die sich durch die Landschaft ziehen.

«Ich will den Sound der Alp hörbar machen», sagt er. Der eigentümliche Klang reflektiert das Leben auf der Alp und zugleich durchbrechen die dunkeln und düsteren Geräusche die alpine Idylle. Diese Verbindung von Natur und Klang, von Ort und Kunst, zieht auch Besucherinnen und Besucher aus den Städten an. Was als akustisches Kunstprojekt beginnt, endet oft in einem längeren Gespräch – bei Käse, Brot und dem Gefühl, dass hier oben mehr passiert als nur stille Landschaft.

Alpenspirit auf Wanderschaft

Nathalie Bissig, Künstlerin und Fotografin aus Uri, wird ihre Werke an Stallwänden ausstellen. Ihre Bilder erzählen von Mythen und Sagen, vom alpinen Alltag, von rauer Schönheit. «Wir brauchen Geschichten, um das hier auszuhalten», sagt sie. Die Idylle ist nicht nur pittoresk, sie ist auch fordernd. Und dennoch – oder gerade deshalb – sind Menschen wie sie fasziniert von dieser Landschaft und auch von dieser Dorfgemeinschaft.

Gitschenen war bis vor kurzem sogar im Museum. Die IG Maisander wurde eingeladen, eine Performance im Haus für Kunst Uri in Altdorf zu gestalten. Ein Stück Bergleben kommt ins Tal. Das Ziel: Den Spirit der Alp erlebbar machen, nicht nur für künftige Touristinnen und Touristen, sondern auch für all jene, die sich nach einem anderen Leben sehnen. Genau diese Leute will das Kulturkollektiv ansprechen.

Ich denke, Gitschenen ist ein super Ort, um aufzuwachsen und eine schöne Kindheit erleben zu können
Autor: Florian Maritz Künstler

Dies ist auch ganz im Sinne von Gemeindepräsidentin Andrea Gisler: «Wir brauchen neue Leute, die bleiben». Die Abwanderung beschäftigt sie stark. In der Gemeinde Isenthal, zu der Gitschenen als oberster Dorfteil gehört, leben heute rund 500 Menschen. Vor 25 Jahren waren es gut 100 mehr. Es ist ein schleichender Verlust. Kein Exodus, sondern ein ständiges Weniger.

Raum fürs Wesentliche

Doch es gibt Hoffnung. Florian Maritz, Künstler, 29, lebt mit seiner jungen Familie hier. Für seine Kunstkarriere scheint die Stadt, das urbane Umfeld mit all den Museen und Galerien unverzichtbar. Doch für Florian Maritz ist klar «Ich will vor allem eine gute Arbeit machen und mich nicht verbiegen.»

In seiner Heimat Gitschenen finden zwar nicht wöchentlich Vernissagen und Happenings statt. Dafür bietet der Ort etwas, was durchaus als ein Luxus unserer Zeit verstanden werden kann: die Reduktion von Einflüssen und Eindrücken, weniger Hektik, Lärm und Ablenkung, dafür mehr Natur, Weitsicht und Ruhe. Das scheint ein zentrales Argument für ein Leben in der Urner Gemeinde zu sein.

Florian Maritz zeigt auch, dass sich das Leben im Alpinen mit einer eigenen Familie gut kombinieren lässt. Der Schulweg der Kinder ist zwar länger und etwas komplizierter, zuerst mit der Seilbahn ins Tal und dann mit dem Bus ins Dorfzentrum. Aber: «Ich denke, Gitschenen ist ein super Ort, um aufzuwachsen und eine schöne Kindheit erleben zu können», sagt der Künstler Florian Maritz.

Den Generationenwechsel anstossen

Eine neue, junge, innovative Generation muss in Gitschenen das Ruder übernehmen. Klappt der Generationenwechsel, wird auch die Zukunft des Bergortes gesichert sein. Das Engagement der Kulturgenossenschaft IG Maisander bringt auch dieses Thema aufs Tapet.

Denn als ein zentrales Ziel sieht die Kulturgenossenschaft nicht nur die Stärkung des Dialogs zwischen den urbanen und alpinen Lebensräumen, sondern auch jener zwischen den unterschiedlichen Generationen.

Radio SRF1, Treffpunkt, 26.8.2025, 10:03 Uhr

Meistgelesene Artikel