Zwei amerikanische Studenten auf Europa-Reise: Der 20-Jährige John F. Kennedy und sein Begleiter Lem Billings besuchen 1937 neben Frankreich und Spanien auch das faschistische Italien und Nazi-Deutschland. Ihre Eindrücke halten die beiden – 24 Jahre, bevor Kennedy zum 35. Präsident der USA gewählt wird – in einem Tagebuch und Journal fest.
Als «Geheimes Tagebuch» sind die Aufzeichnungen nun erstmals unredigiert und auf Deutsch erschienen. Der Berner Literaturwissenschaftler Oliver Lubrich hat die Handschriften aus einer Bibliothek in Boston transkribiert. Die Manuskripte verbinden Privates und Politisches und zeigen zwei Freunde in den Ferien: vor dem schiefen Turm von Pisa, in Museen, Kathedralen, auf der Piazza San Marco oder am Lido von Venedig.
Kennedy liess sich täuschen
«Der Faschismus scheint ihnen gut zu tun», notiert Kennedy in seinen Beschreibungen der öffentlichen Ordnung in Italien. Er gibt offen zu, dass er sich von der faschistischen Selbstinszenierung täuschen lässt. «Kennedy hält das in seinem Tagebuch unumwunden fest», sagt Oliver Lubrich. Kennedy habe es bemerkenswert gefunden, wie leicht man sich täuschen lasse, wenn man keine Ahnung habe.
Kennedy war dabei, dem Hitler-Mythos nachzuspüren.
Im Verlauf der Reise versucht Kennedy, sich politisch zu informieren. Er besucht in Frankreich Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges, hört an der spanischen Grenze Leidensgeschichten von Flüchtlingen des Bürgerkrieges an und interviewt alle möglichen Menschen – etwa Korrespondenten, Diplomaten oder einfache Personen, die er als Anhalter mitnimmt. «Man kann Kennedy dabei beobachten, wie er als Zwanzigjähriger um politisches Verständnis bemüht ist», so Lubrich.
Fasziniert von der Propaganda
Über Deutschland schreibt Kennedy: «Hitler scheint hier so beliebt zu sein wie Mussolini in Italien, wenngleich Propaganda wohl seine stärkste Waffe ist.» Daraus spricht nach Lubrichs Meinung auch eine Spur Faszination für den propagandistisch talentierten Faschisten. «Kennedy war dabei, dem Hitler-Mythos nachzuspüren.»
Von Bewunderung Kennedys für Mussolini oder Hitler würde Lubrich aber nicht sprechen. «Er interessierte sich für die Wirkung, für die politische Propaganda, für die Selbstinszenierung und für die Faszination, die von diesen Diktatoren ausgeht.» Kennedy habe beobachtet, dass man im Ausland diese Faszination unterschätzt habe.
Eigenes Weltbild geformt
Kennedy besucht 1939 und 1945 noch zwei weitere Male Nazi-Deutschland. Kurz nach Kriegsende begibt er sich in den zerstörten Bunker in der Reichskanzlei und in Hitlers Wahlheimat Obersalzberg. Kennedys Beobachtungen, wie Hitler sich die Medien zunutze machte, waren ihm laut Lubrich später während seiner eigenen politischen Karriere nützlich.
Der junge Kennedy formt allmählich sein eigenes politisches Weltbild. Sein Hintergrund ist vom sogenannten Isolationismus seines Vaters geprägt. «Etwas, das wir heute als Trump'sches ‹America first› kennen. Die Vorstellung, dass man die Europäer und auch die Diktatoren sich selbst überlassen soll», so Oliver Lubrich.
Kennedy habe eine andere Haltung zu den europäischen politischen Geschehnissen entwickelt. «In Danzig fragte er sich beispielsweise 1939, kurz vor Kriegsbeginn: ‹Wie kann man in einer Krise einen Krieg gerade noch verhindern?›», so Lubrich.
1963 besucht Kennedy Deutschland zum letzten Mal. Dort sagt er seinen berühmten Satz «Ich bin ein Berliner». Vor dem Hintergrund seiner früheren Reisen bekommt die Aussage eine tiefere Bedeutung.