Zum Inhalt springen

Geheimes Wissen Mit Geheimniskrämerei zum Erfolg

Eine Wissenschaftlerin rühmt sich damit, ihre Resultate im Verborgenen zu behalten. Ein Politiker verlautet, seine Geheimnisse nicht lüften zu wollen: Das klingt für unsere Ohren unvorstellbar. Aber vor gar nicht allzu langer Zeit war genau das an der Tagesordnung. Das sagt Historiker Daniel Jütte: Die Frühe Neuzeit sei ein Zeitalter des Geheimnisses gewesen.

Daniel Jütte

Historiker

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Daniel Jütte ist spezialisiert auf die Frühe Neuzeit Europas und lehrt an der New York University. 2011 publizierte er das Buch: «Das Zeitalter des Geheimnisses. Juden, Christen und die Ökonomie des Geheimen (1400–1800)». Vandenhoeck & Ruprecht.

Website von Daniel Jütte

SRF: Was hat Sie dazu gebracht, zu diesem Thema zu forschen?

Daniel Jütte: Durch einen Fund im Archiv. Dort stiess ich auf einen sogenannten Geheimnisprofessor um 1600. Das war eine Berufsbezeichnung, die heute völlig fremd klingt. Aber um 1600 und bis ins 18. Jahrhundert gab es diese Berufsgattung in Europa.

Der Mann hiess Abramo Colorni und hatte an den Fürstenhöfen der damaligen Zeit grossen Erfolg mit seinem Wissen um Alchemie, weisse Magie oder Kryptografie.

Das war für mich ein erstes Indiz, dass es in der Renaissance und auch später noch ein beträchtliches Interesse am Geheimnis gab – eine Form von Wissen, die begehrenswert war.

Zeichnung und Schriften von Leonardo da Vinci
Legende: Auch Leonardo da Vinci war eine Art «Geheimnisprofessor»: Er schrieb in Geheimschrift und bezeichnete seine Projekte oft als Geheimnisse. imago images / Panthermedia

Das steht in einem direkten Gegensatz dazu, wie wir heute das Geheimnis beurteilen.

Ja, unser Verständnis von Geheimnis heute ist negativ – aber das ist keineswegs für alle Zeiten der Vergangenheit gültig.

In der Frühen Neuzeit wurde eine Regierung gerade dann als kompetent und verantwortungsvoll angesehen, wenn sie Geheimnisse hütete oder gar hortete.

Können Sie einen konkreten Vergleich eines Geheimnisses von damals und heute machen?

Nehmen Sie zum Beispiel die Frage der Staatsgeheimnisse: Natürlich akzeptieren wir auch heute, dass die Regierungen ein gewisses Mass an Geheimhaltung benötigen. Aber wir sind in den westlichen Demokratien sehr skeptisch, wenn diese Geheimhaltung auch nur den Anschein erweckt, exzessiv zu sein. Wir haben ein fast verinnerlichtes Misstrauen gegenüber Geheimnissen, die der Staat hütet.

In der Frühen Neuzeit hingegen wurde eine Regierung gerade dann als kompetent und verantwortungsvoll angesehen, wenn sie Geheimnisse hütete oder gar hortete.

Das ist aus der heutigen Sicht schwer verständlich. Was machte das Geheimnis so attraktiv?

Wir verstehen das Geheimnis heute als eine Enthaltung oder Unterdrückung von Wissen. Aber in der Frühen Neuzeit wurde es als eine Chance angesehen für Ideen, die noch nicht reif waren, in der Öffentlichkeit zu zirkulieren. Diese Dinge wurden im Geheimen weitergegeben oder waren nur einem kleinen Kreis zugänglich.

Ein Beispiel dafür sind die Kontakte zwischen Juden und Christen. Die Beziehungen waren voller Vorurteile und staatlicher Repression. Aber es gab Kontakte zwischen diesen beiden Gruppen: Dinge, die im Geheimen passierten, boten eine Möglichkeit, die in einem öffentlichen Rahmen so nicht möglich gewesen wäre.

Vier Geheimnisse der Frühen Neuzeit

Box aufklappen Box zuklappen
Giovan Battista Della Porta
Legende: imago images / Leemage

Alchemie

Die Alchemie ist die wohl bekannteste «Geheimwissenschaft» der Frühen Neuzeit, aber vielleicht auch die am meisten missverstandene. Viele verbinden mit dem Begriff die Vorstellung von betrügerischer Goldmacherei. Doch längst nicht allen Alchemisten ging es um die Herstellung von Gold, und diejenigen, die doch diesem Ziel nachjagten, hatten keineswegs von vornherein betrügerische Absichten.

Historisch betrachtet umfasst der Begriff Alchemie eine Fülle von Wissensfeldern und -praktiken, etwa die sogenannte «Praktische Alchemie» (die sich u.a. metallurgischen Themen widmete) ebenso wie die medizinische Alchemie («Iatrochemie»). Was die meisten Alchemisten gemeinsam hatten, war, dass sie ihr Wissen tendenziell geheim hielten – nicht aus unlauteren Motiven, sondern weil sie ihr Wissen als von Gott geschenkt betrachteten und daraus ein besonderes Verantwortungsbewusstsein ableiteten.

Staatsgeheimnisse («arcana imperii»)

Die Idee der Staatsgeheimnisse war zentral im politischen Leben Europas im Zeitalter der Renaissance. Der Begriff der «arcana imperii», wurde zum Schlagwort der politischen Theorie des 16. und 17. Jahrhunderts – und zur Rechtfertigung für Herrscher und Regierungen, politisches Wissen und Handeln der Geheimhaltung zu unterwerfen.

Es wäre aber zu kurz gegriffen, hinter der Arkanpolitik des frühneuzeitlichen Staates lediglich gewissenlose Machtpolitik zu wittern. Vielmehr wurde die Geheimhaltung als eine ethische Aufgabe des Herrschers und seiner Vertrauten betrachtet. Das Wechselspiel von Religion und Politik war von grosser Bedeutung: Prominente Theologen argumentierten, dass Gottes Handeln geheimnisvoll und nicht zu ergründen sei – eine wichtige Legitimation für das geheime Handeln von Herrschern, die von Gottes Gnaden regierten.

Geheimschriften

Eng verbunden mit der Idee der «arcana imperii» ist das Aufkommen von Geheimschriften. In der antiken und mittelalterlichen Korrespondenz waren Verschlüsselungsmethoden noch relativ selten angewandt worden. In Italien kam die verstärkte Beschäftigung mit Chiffren um die Mitte des 14. Jahrhunderts in Gang.

Als einflussreich sollte sich auch auf diesem Gebiet der berühmte Staatsphilosoph Niccolò Machiavelli erweisen. Machiavelli erwähnte in seinem Werk die Nützlichkeit verschlüsselter Botschaften für den Fürsten und gab damit der Beschäftigung mit der Kryptografie Auftrieb.

Eine weitere wichtige Neuerung war seit der Mitte des 15. Jahrhundert die Entstehung eines ständigen Gesandtenwesens und der Diplomatie – Bereiche, in denen Geheimhaltung und Diskretion quasi zum Beruf gehörten.

Geheimnisprofessoren

Die Berufsbezeichnung war in der Frühen Neuzeit gebräuchlich und wurde respektvoll benutzt. Geheimnisprofessoren waren oftmals ausgewiesene Experten in Bereichen wie der Alchemie, der Naturphilosophie, Medizin, Magie und religiösen Mystik. Ein Paradebeispiel ist der neapolitanische Adlige Giovan Battista Della Porta (1535–1615), der in seiner Heimatstadt sogar eine «Geheimnisakademie» (Accademia de’ Secreti) begründete.

(Daniel Jütte)

Das heisst: Wer nicht alle Karten offen auf den Tisch legte, strahlte Attraktivität aus?

Ja. Das gilt übrigens auch für die Frauen der damaligen Zeit, die von öffentlichen Institutionen ausgegrenzt waren. Trotzdem boten sie Forschungsaktivitäten und medizinische Dienstleistungen an. Diese wurden oft als das «geheime Wissen von Frauen» dargestellt.

Zwei Frauen halten das Jesuskind.
Legende: Hebammen waschen das Jesuskind auf einem Bild aus dem 14. Jahrhundert (Ausschnitt). imago images / Photo12

Hebammen spielen hier eine besondere Rolle. Aber es gab auch Frauen, die in der alchemischen Forschung experimentierten und naturwissenschaftliche Experimente in dieser geheimen Disziplin unternahmen – oder in der Alltagsmedizin, wo die Vermarktung dieses Wissens als Geheimwissen eine Chance war, sich zu etablieren.

Legitimation durch Magie: Hat das auch mit dem stärker präsenten Glauben zu dieser Zeit zu tun?

Ja. Dazu kommt die Reformation: Mit dem Protestantismus nahm die Idee Fahrt auf, dass Gott selber im Geheimen wirkt.

Die Vorstellung von Gott, der im Verborgenen wirkt, führte dazu, dass das Geheime auch fast etwas Göttliches bekam.

Die protestantischen Theologen sprachen immer wieder von einem verborgenen Gott, den man nicht beeinflussen kann. Das ist der Kern der protestantischen Lehre: Sie können nicht mit Gott Handel treiben. Die Vorstellung von Gott, der im Verborgenen wirkt, führte dazu, dass das Geheime auch fast etwas Göttliches bekam.

Zwingli-Porträt
Legende: Gott wirkt im Verborgenen: Mit der Reformation wurde das Geheimnis legitimiert. (Im Bild: Zürcher Reformator Zwingli) Flickr/Nick Thompson

Wann hat sich diese positive Auffassung des Geheimnisses aufgelöst?

Die Aufklärung vermittelte das Bild, dass in der modernen Welt alles klar sein und offengelegt werden muss, eine Welt, in der sozusagen das Licht in das Dunkle getragen werden muss.

Eine Kultur, die alles offenlegen will und das Geheimnis nur negativ betrachtet, hat auch Schwächen.

Es gibt zudem den Begriff der «Entzauberung der Welt» von Max Weber, dem deutschen Soziologen: Die Vorstellung also, dass unsere moderne Welt durch Technik und Wissenschaft vorhersehbar und planbar geworden ist. Dadurch übt das Geheimnis nicht mehr eine so grosse Faszination aus.

Bleiben wir noch bei der Gegenwart. Gibt es ein Beispiel, von dem Sie denken, dass die frühere Einstellung zum Geheimnis heute nichts schadet?

Ja. In den Sozialen Medien zum Beispiel. Es lastet ein enormer Druck auf vielen Menschen, alles aus dem Privatleben öffentlich zu machen. Das Bedürfnis nach Privatsphäre beinhaltet aber auch das Recht auf Geheimnisse.

Georg Simmel bezeichnete das Geheimnis als eine der grössten Errungenschaften der Menschheit: Freundschaften und enge Beziehungen leben von Geheimnissen.

Ich sage nicht, dass wir zurückgehen sollen zur Alchemie oder Magie. Aber wir können lernen, dass eine Kultur, die alles offenlegen will und das Geheimnis nur negativ betrachtet, auch Schwächen hat. Unser Verständnis vom Geheimnis ist auf eine juristische Dimension zurückgezogen: Arztgeheimnisse, Postgeheimnisse.

Das Geheimnis ist aber nicht nur ein Recht, sondern auch ein Vorrecht. Georg Simmel bezeichnete das Geheimnis als eine der grössten Errungenschaften der Menschheit. Denn es bereichert uns: Freundschaften und enge Beziehungen leben von Geheimnissen. Simmel sagt sogar, dass eine gute Ehe nur diejenige sein könne, die auf dem Geheimnis beruhe.

Das Gespräch führte Emilie Buri.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktualität, 26.08.2020, 6:50 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel