Der Basler Soziologe Lucius Burckhardt erfand in den 1980er-Jahren die Disziplin der Spaziergangswissenschaft. Die besondere Form der Urbanisierungskritik wird heute noch in Kassel gelehrt. Professor Martin Schmitz ist sozusagen in die Fussstapfen von Burckhardt getreten - und unterrichtet in «Spaziergangswissenschaften».
SRF: Sie unterrichten Spaziergangswissenschaft an der Kunsthochschule in Kassel. Ist Spazierengehen so schwer, dass man das lernen muss?
Martin Schmitz: Nein, spazieren gehen kann jeder, ganz im Beuys‘schen Sinn: «Jeder Mensch ist ein Künstler». Aber was die Spaziergangswissenschaft will mit Bezug auf das Planen und Bauen, auf unsere Mobilität und unserer Wahrnehmung der Umgebung, das kann man durchaus in einem Seminar besprechen.
Die Disziplin der Spaziergangswissenschaft oder Promenadologie geht auf den Basler Soziologen Lucius Burckhardt zurück. Was bezweckte er?
Lucius Burckhardt prägte den Begriff der Spaziergangswissenschaft, als sich immer mehr Menschen in den 1980er-Jahren immer preiswerter durch die Welt bewegen konnten und sich die Umgebungen dadurch sichtbar veränderten.
Lucius Burckhardt ging es immer um Gestaltung: Wie wird geplant und realisiert? Wie wirkt das Gebaute auf uns zurück? Ein Promenadologe untersucht die Beziehungen zwischen Mobilität, Wahrnehmung und die Rückkopplungen auf das Planen und Bauen.
Und dazu muss man spazieren?
Das Gehen ist die einfachste Form, sich einen Raum, eine Landschaft oder eine Stadt zu erschliessen.
Burckhardt kritisierte den Städtebau genauso wie die zunehmende Mobilität. Unsere Städte sind seither weiter gewachsen, die Mobilität nimmt laufend zu. Alles schlecht aus Sicht eines Promenadologen? Oder tut sich auch Positives im Städtebau?
Lucius Burckhardt war nach dem Zweiten Weltkrieg in Basel Zeuge, wie das individuelle Verkehrssystem Auto in eine bestehende gotische Altstadt eingebaut werden sollte. Das hatte es zuvor im Städtebau nie gegeben, folglich gab es auch keine Fachleute, die diesen Prozess umsichtig planen konnten.
Für Burckhardt bedeuteten der Abriss ganzer Häuserzeilen und die Verbreiterung der Strassen die Zerstörung seiner Heimatstadt. Er kritisierte nicht die Mobilität an sich. Gestört hat ihn vielmehr, dass die politisch Verantwortlichen nicht grundsätzlich über den Sinn der totalen Automobilisierung nachdachten.
Heute leben wir ja nach wie vor mit den Folgen dieser Entwicklung. In Peking löste sich ein 100 Kilometer langer Autostau erst nach zehn Tagen auf. Es tut sich aber was im Städtebau, das merke ich auch am riesigen Interesse an Burckhardts Schriften zur Planung und Gestaltung.
Unter den Philosophen fanden sich immer viele leidenschaftliche Spaziergänger: Aristoteles, Kant, Nietzsche, Rousseau, Benjamin. Sie alle waren der Meinung, beim Gehen denke es sich besonders gut. Geht es Ihnen auch so?
Ja, sicher! Die Promenadologie geht aber über diesen historischen Kanon hinaus, indem die Gestaltung und Wahrnehmung in unserer Zeit mit dem absichtslosen Spaziergang verbunden werden. Burckhardt schrieb dazu: «Es handelt sich bei den Spaziergangswissenschaften um etwas ganz anderes als das traditionelle Flanieren. Sie sind eine Karikatur ihrer Vorbilder.»
Zwar hätte auch die Promenadologie die «Distanz zur Wirklichkeit» geerbt, so Burckhardt. Aber sie ist vollkommen nostalgiefrei. Spaziergangswissenschaften geschehen vielmehr aus einer ironischen Haltung. «Heute kann man vieles nur so betrachten», sagte Burckhardt.
Das Gespräch führte Barbara Bleisch.