SRF: Niemand zahlt gerne Steuern, aber es ist klar, dass Steuern ein Solidarmodell sind, das für gesellschaftlichen Ausgleich sorgt. Hat der Rückhalt für dieses Modell bei sehr begüterten Privatpersonen und Firmen in den letzten Jahren nachgelassen?
Ueli Mäder: Das Bewusstsein, dass Eigentum verpflichtet, hat sich verändert. Die christliche Sozialethik, der politische Liberalismus waren in den 1950er- und 1960er Jahren noch ausgeprägter, dieses Bewusstsein reichte bis in die 1980er-Jahre hinein.
Was trug dazu bei, dass dieses Bewusstsein erodierte?
In den angelsächsischen Ländern war es schon früher so, dass man den Staat möglichst schmal halten wollte – Stichwort Reaganomics, Thatcherismus.
In der Schweiz hat sich Ende der 1980er-Jahre etwas verändert, auch im Kontext des Mauerfalls – eigentlich eine erfreuliche Geschichte. Doch seither drängt das Kapital offensiver in jene Bereiche vor, in denen es sich möglichst gut verwertet.
Und seither verstärkt sich auch die Haltung, in sozialer Ungleichheit gar kein Problem zu sehen – aus der Idee heraus, das dynamisiere unsere Gesellschaft.
Sie haben für Ihr Buch «Wie Reiche denken und lenken» mit vielen Begüterten gesprochen. Besteht da ein Unrechtsbewusstsein, wenn man Steuern vermeidet? Oder gilt die Devise: «Wer clever ist, zahlt nicht»?
Da gibt es grosse Unterschiede. Ich erinnere mich an Gespräche, die mich irritiert haben: Ein Reicher aus der Ostschweiz etwa erzählte fast schon begeistert davon, wie clever er Steuern am Fiskus vorbeiführt.
Andere haben ein nüchternes Verhältnis zu Steuern und finden, das gehöre dazu. Sie versuchen aber pragmatisch, so wenig wie möglich zu bezahlen.
Weshalb finden die Praktiken zur Steuervermeidung dann im Verborgenen statt? Wissen die Leute dennoch, dass sie die sozialen Erwartungen unterlaufen?
Ich vermute, dass da schon ein Bewusstsein dafür mitschwingt. Ansonsten könnte es ja auch transparenter gehandhabt werden.
Die Praktiken sind ja bisher legal.
Und doch können wir sagen, dass seit der Finanz- und Wirtschaftskrise in den Jahren 2007 und 2008 die öffentliche Sensibilität zugenommen hat. Das stärkt eine gewisse Zurückhaltung, um nicht negativ ins Gespräch zu kommen.
Nimmt der Gedanke der Solidarität gesamtgesellschaftlich ab? Die Idee, dass man zu etwas beiträgt, von dem man nicht unmittelbar persönlich profitieren kann?
Das würde ich so nicht sagen. Es gibt viel Solidarität in unserer Gesellschaft. Es gibt viele Leute, die viel dafür tun, ein gutes Leben zu führen, ohne dass sie sich die Solidarität auf die Fahnen schreiben. Das beeindruckt mich immer wieder.
Es gibt auch bei der jüngeren Machtstudie, die wir vor zwei Jahren gemacht haben, eine Reihe von Begüterten, die sagen: Wenn das so weitergeht, wird es gefährlich. Wir müssen zurückbuchstabieren, weg von diesem finanzgetriebenen Denken, hin zum Liberalen, das einen sozialen Ausgleich anstrebt.
Es gibt deutliche Anzeichen von Personen, die dagegen halten. Aber im Mainstream wird sich die soziale Brisanz verschärfen.
Die Mächtigen werden in den Medien prominent inszeniert. Das verstärkt die heimliche Bewunderung.
Warum gibt es in der Mehrheit der Gesellschaft keinen grösseren Aufschrei? Warum zahlen die normalen Bürger weiterhin brav ihre Steuern, wenn sie hören, dass es sehr begüterte Personen gibt, die das offenbar nicht tun müssen?
Das ist eine schwierige Frage. Manchmal schwingt eine Identifikation mit Reichen mit. Und es gibt auch die Haltung: Wenn es den Reichen weniger gut geht, geht es uns allen weniger gut. Das trägt dazu bei, sich mit Kritik zurückzuhalten.
In unserer individualisierten Gesellschaft gilt heute: Jeder ist seines Glückes eigener Schmied – man sucht die Schuld bei sich, wenn man es nicht schafft. Wobei ich den Eindruck habe, dass sich die Bereitschaft, alles auf die eigene Schulter zu nehmen, verändert – im Kontext einer grösseren Transparenz auch über soziale Ungleichheiten.
Gerade bei sozial Benachteiligten gibt es wieder mehr, die empört sind und Wut empfinden, aber leider lässt sich diese Wut auch neopopulistisch vereinnahmen. Und das hindert die Leute daran, auf die Strasse zu gehen.
Sie sagten vorhin, es gäbe eine heimliche Bewunderung für diejenigen, die clever genug sind, ihr Geld für sich zu behalten?
Die ist relativ ausgeprägt. Die begüterten Mächtigen werden oft in der Medienwelt prominent inszeniert. Das verstärkt diese heimliche Bewunderung.
Glauben Sie, dass diese Praktiken der Steuervermeidung, die durch die Recherchen unter dem Titel «Paradise Papers» ans Licht gekommen sind, nur die Spitze des Eisbergs sind?
Ja, und das betrübt mich. Ich bekomme viele Informationen zugespielt. Ich sehe, was bei uns in der Region, in der Schweiz geschieht, wie viele in den eigenen Sack scheffeln, manche Wirtschaftsanwälte, selbst Leute in der hohen Politik. Das bekümmert mich schon.
Das Gespräch führte Irene Grüter.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 7.11.2017, 17:08 Uhr