Alwyn Collinson twittert jeden Tag über den Zweiten Weltkrieg. Und zwar so als ob der gerade stattfinden würde. Dabei nimmt sich der studierte Historiker Ereignisse des jeweiligen Tages vor. Momentan arbeitet er sich am Jahr 1941 ab. In der deutschen Übersetzung klingt das so:
«Hitler trifft Diktator Mussolini am Brenner, hoch in den Alpen. Hitler spielt darauf an, dass er diesen Sommer ‹grossartige Kriegspläne› habe. Mussolini ist verwirrt – er weiss nichts von der geplanten Invasion der Sowjetunion.»
Collinson arbeitet als Online-Stratege für das Museum of London, seinen Twitter-Account betreibt er allerdings in seiner Freizeit. Mehr als eine halbe Million Menschen folgen ihm dort.
Viele User diskutieren unter seinen Beiträgen oder recherchieren zusätzliche Fakten. Genau das fasziniert Collinson: dass die Twitter-User seine Geschichtstweets nicht einfach lesen, sondern sie mitgestalten.
Wissen per Twitter
«Es berührt mich sehr, wenn mir Menschen schreiben, deren Eltern oder Grosseltern den Zweiten Weltkrieg erlebt haben», sagt Collinson. «Manchmal erzählen sie mir persönliche Geschichten oder schicken mir Fotos, die ich dann in meinen Tweets verwenden kann. Diese persönliche Verbindung beeindruckt mich am meisten.»
Auf Youtube, Instagram und Twitter gibt es viele Projekte, die historisches Wissen vermitteln sollen. Eines haben sie alle gemeinsam: Sie servieren Geschichte in mundgerechten Häppchen.
Ein Foto hier, ein Video dort, ein Tweet, der ein historisches Ereignis in 280 Zeichen fasst. Schliesslich ist die Aufmerksamkeitsspanne in der digitalen Welt kurz. Collinson sieht in dieser Prägnanz einerseits einen Vorteil, andererseits aber auch ein grosses Problem.
Verharmlosung der Tragödie?
«Manchmal besteht die Gefahr, dass Dinge viel zu simpel erklärt werden. Manche Menschen lügen, sie verbreiten Propaganda oder emotionale Geschichten, die nicht stimmen oder missverständlich sind», sagt er.
«Solche Dinge können sich online enorm schnell verbreiten. Früher waren Historiker eher in der Lage, zu kontrollieren, welche Informationen verbreitet werden.»
Dass digitale Geschichtsprojekte Zusammenhänge verkürzen oder verfälschen ist die eine Kritik. Ein anderer Vorwurf lautet: Mit ihrer oft poppigen Ästhetik verharmlosten sie historische Tragödien.
Mit dieser Kritik konfrontiert wurden unter anderem die Macher des Instagram-Accounts «Eva Stories». Das Projekt basiert auf den Tagebüchern der ungarischen Jüdin Eva Heyman, die 1944 in Auschwitz ermordet wurde.
In einem aufwendig produzierten Videotagebuch erzählt eine junge Schauspielerin ihre Geschichte.
Die Videos erinnern an Hollywood-Filme, sie sind dramatisch in Szene gesetzt. Den Vorwurf, dass sie die Shoah verharmlosten, hält Collinson dennoch für ungerechtfertigt. Wenn digitale Projekte die Leute dazu brächten, sich überhaupt für Geschichte zu interessieren, sei das zumindest ein Anfang.
HistorikerInnen müssen flexibel bleiben
«Es ist ja nicht so, als ob diese Leute Geschichte stattdessen aus einem exzellenten und detaillierten Buch lernen würden. Sie würden dann einfach gar nichts über Geschichte lernen», sagt Collinson.
«Man muss die Menschen dort abholen, wo sie sind. Man kann nicht so tun als würden sie etwas über Geschichte lernen, wenn man Geschichte trocken und langweilig erzählt.»
Für Collinson steht deshalb fest: Historiker müssen Wege finden, auch online mit Menschen in Kontakt zu treten. Andernfalls riskierten sie, ihren Einfluss auf die Vermittlung von Geschichte zu verlieren.