Kopfschütteln, Entsetzen, Verachtung: Das sind nur einige der starken Emotionen, die das Wort «vulgär» hervorruft. Besonders in Kombination mit Mode scheint Vulgarität inakzeptabel. Schlicht bedeutet edel? Auch das ist ein Trugschluss.
Mit Gold durchwirkt
Das vergegenwärtigt ein alles andere als schlichtes Messegewand aus dem 15. Jahrhundert. Es ist im Londoner Barbican im Rahmen der Ausstellung «The Vulgar. Fashion Redefined» ausgestellt.
Gefertigt ist das aus einem golddurchwirkten Gewebe. Damals, als Luxus verpönt war, markierte der Gebrauch dieses Gewands besondere Gelegenheiten.
Zu viel Geprotze, zu wenig Klasse
Die Schau stellt dem Messegewand ein genauso golddurchwirktes Abendkleid gegenüber. Kreiert hat es 1937 die Designerin Elsa Schiaparelli. Sie liess es ganz aus Goldbändern flechten und lehnte sich im Schnitt an ein Renaissancekleid an.
Die Üppigkeit des Goldes hinterlässt beim Betrachten jedoch einen schalen Geschmack. Zuviel Geprotze, zu wenig Klasse. Das Kleid wirkt unangenehm vulgär.
Kontextfrage: Kirche oder Cocktail?
Diese Kombination bringt es auf den Punkt: Was als vulgär empfunden wird, kommt immer auf den Kontext an. Was im Rahmen eines Kirchenfests Einmaligkeit atmet, ist in Bezug auf einen weitaus gewöhnlicheren Abend-Event selbst Jahrhunderte später übertrieben.
Solche Erkenntnisse machen die Schau «The Vulgar. Fashion Redefined» spektakulär. Judith Clark, Professorin für Mode und Museumskunde in London, und der britische Psychologe Adam Phillips haben die Ausstellung kuratiert.
Ehrgeiz und Vorurteil
Am Anfang stand das Wort: Der Psychologe Philips hat sich dem Begriff des Vulgären in der Gesellschaft angenähert. Er vermeidet bewusst eine einfache Definition. «Beim Wort ‹vulgär› kommt es darauf an, wie es gebraucht wird, wer es braucht und was man damit bezweckt», sagt er.
Aus seinen Erkenntnissen hat Philips elf Positionen herausdestilliert, welche den Begriff des Vulgären umkreisen.
«Das Vulgäre deckt den Skandal des guten Geschmacks auf» heisst es da, «Vulgarität stellt Ehrgeiz zur Schau», «Das Vulgäre enthüllt Geschmack als Vorurteil» oder auch «Das Vulgäre ist eine Form von Sehnsucht».
Im Kontrast geht die Reinheit verloren
Dann begann die kreative Arbeit der Modeprofessorin Judith Clark: Sie stellte historischen Kleidern aus den letzten 500 Jahren Designkreationen der letzten Jahrzehnte gegenüber.
Die Wirkung dieser Paarungen ist beeindruckend und mitunter brisant. Zum Beispiel sehen wir kunstvolle Spitzenkrägen aus den 17. Jahrhundert.
Sie waren die einzige Zierde bei den damals üblichen schlichten schwarzen Kleidern in Flandern und den Niederlanden. Rein wirken sie, und kostbar. In diesem Kontrast von puristisch Schwarz und purem Weiss manifestiert sich jedoch etwas Vulgäres.
Der Betrachter entscheidet
Jahrhunderte später, 2009, kreiert der britische Designer John Galliano diesen Kontrast für das Modelabel Christian Dior: ein exzentrisches Kleid, welches das goldene Zeitalter der Niederlande zitiert. Dazu besetzt er ein schlichtes schwarzes Kleid mit üppigem weissem Spitzenkragen und genauso übertriebenen Ärmelaufschlägen.
Edel? Vulgär? Das liegt im Auge des Betrachters. Diese Erkenntnis lässt sich praktisch für jede Gegenüberstellung von historischen Kleidern und modernen Interpretationen anwenden.
Mode verformt den Körper
Doch was hat Vulgarität überhaupt mit Mode zu tun? Sehr viel: Kleidung umhüllt den Körper, Mode betont ihn. Mehr noch: Mode stellt den Körper aus, verformt ihn.
Sie macht aus etwas Natürlichem ein Kunstprodukt. Genau da greift das Vulgäre: Es bezeichnet immer etwas Gemachtes, Künstliches. Damit wird aus Mode und Vulgarität eine hochexplosive Mischung.
Die Ausstellung «The Vulgar. Fashion Redefined» im Londoner Barbican schärft den Blick für solche Zusammenhänge. Das macht sie faszinierend und ständig wieder überraschend.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 6.12.2016, 9 Uhr