Bereits 1949, vier Jahre nach der Gründung der UNESCO, wurde auch die Schweiz Mitglied. Das erstaunt, wenn man bedenkt, dass sie sonst eher zögerlich war im Hinblick auf die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen. Warum so früh?
Jean-Bernard Münch: Die Werte der UNESCO spielten eine wesentliche Rolle. In der Gründungsurkunde steht: Frieden muss, wenn er nicht scheitern soll, in der geistigen und moralischen Solidarität der Menschheit verankert werden. Die UNESCO vertritt sehr viele Werte, die auch die Schweiz kennt, etwa Toleranz, Gerechtigkeit und die Achtung der Menschenrechte. Oder anders gesagt: Die UNESCO-Werte sind die Schweizer Werte.
Die in der UNESCO-Gründungsurkunde verankerten Werte sind in letzter Zeit weltweit unter Druck geraten, auch in der Schweiz. Was tut die UNESCO, um diese wieder zu stärken?
Nicht nur Rassismus und Fremdenfeindlichkeit haben in den letzten Jahren weltweit zugenommen, sondern auch Intoleranz, Selbstbezogenheit und sogar Abkapselung – das betrifft vor allem gewisse politische Parteien der Schweiz. Ausserdem kommt es vermehrt zur Ablehnung der kulturellen Vielfalt und zur Verneinung des Vorrangs des Völkerrechts vor nationalem Recht. Das sind sehr schlechte Nachrichten für die Schweiz. Darum müssen wir uns wirklich bemühen, die UNESCO-Werte nochmals zu erklären und dafür zu kämpfen.
Inzwischen hat die UNESCO 195 Mitglieder. Viele Länder nehmen es mit der «geistigen und moralischen Solidarität» nicht so genau, auch die Schweiz nicht. Was kann die UNESCO konkret tun, wenn die Mitgliederländer nicht spuren?
Wenn die Delegierten der Länder mit lächelnden Gesichtern in Paris sitzen, verneinen sie, dass sie diese Werte nicht respektieren und wollen alles gut machen. Das ist der Beweis, dass sie sich schuldig fühlen. Doch man kann etwas tun: Staaten, die die Werte respektieren wollen, können Druck ausüben.
Dennoch möchte ich die Frage umkehren: Wer würde sich darum kümmern, wenn es die UNESCO nicht gäbe? In anderen Worten: Je schlimmer die Situation, desto wichtiger die UNESCO.
Wo sehen Sie für die UNESCO in den kommenden Jahren die Schwerpunkte?
Die UNESCO muss vor allem einen Beitrag leisten zum Gesamtprogramm der UNO über die nachhaltige Entwicklung, das ist ein sehr vielschichtiges Thema. Die UNESCO ist wichtig in Bezug auf Bildung und Kultur. Aber auch der Kampf für die Erhaltung der UNESCO-Werte wird ein Thema sein. Ich bin sicher: Nach den Attentaten in Paris wollen die Regierungen endlich etwas unternehmen – und die UNESCO wird das mittragen.
Sendung: Radio SRF2 Kultur, Kultur kompakt, 16.11.2015, 16:45 Uhr.