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Gesellschaft & Religion Al Jazeera America – «echte» Nachrichten für die USA

In den USA geht das grösste Fernsehnachrichten-Unternehmen seit fast zwei Jahrzehnten auf Sendung. Al Jazeera verspricht investigativen, ausführlichen Journalismus statt des «Infotainments» der Konkurrenz. Doch die Herkunft des Senders stellt eine Herausforderung dar.

Inmitten der Medienhauptstadt New York produzieren gut vierhundert Menschen seit einem Monat ein neues Nachrichtenprogramm für Amerika. Jetzt kann man ihre Arbeit auch sehen. Der Start von Al Jazeera America ist mit allerlei Hoffnungen verbunden: Hoffnungen auf seriöse Nachrichten im US-Kabelfernsehen. Hoffnungen auf ein unverwässertes Al Jazeera. Und, nicht zuletzt, Hoffnungen auf Zuschauer.

Auf einem Screenshot ist Terrorchef Osama Bin Laden zu sehen.
Legende: Kurz nach den Anschlägen auf New York verbreitete Al Jazeera 2001 Nachrichten von Osama Bin Laden. Reuters

Der Sender ist eine betont amerikanische Version des arabischen Vorbilds aus Katar, doch kann er das Image des Vorbildes nicht abschütteln. Denn was die US-Bürger skeptisch werden lässt, ist die Tatsache, dass der Sender kurz nach den Anschlägen auf New York im Jahr 2001 dem Terror-Chef Osama Bin Laden eine Plattform bot. Damals zeigte der Sender Videobotschaften Bin Ladens exklusiv, und handelte sich die Kritik ein, das Sprachrohr für Islamisten zu sein. Die Kritik kam unter anderem von der US-Regierung.

«Echte Nachrichten»

Viele sahen jedoch die Arbeit des englischsprachigen Al Jazeeras aus jüngerer Vergangenheit als Grund zur Freude. Über eineinhalb Millionen Zuschauer schauten den Live-Stream der englischsprachigen Version von Al Jazeera, als im Nahen Osten der Arabische Frühling begann.

«Kein Wunder», sagte Hillary Clinton, die ehemalige Aussenministerin: «Al Jazeera bringt echte Nachrichten, statt einer Millionen Werbespots und Streitereien von ‹Experten›, und dem Zeug, was wir hier in unseren Nachrichten machen.»

Über Al Jazeera

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Der Sender Al Jazeera wurde 1996 vom Emir von Katar, Scheich Hamad bin Khalifa al-Thani, gegründet. 2006 kam eine englische Version des Senders hinzu, 2013 nun die amerikanische.

Argumente für Kritiker des Kabelfernsehens gab es kürzlich bei der Berichterstattung über den Gerichtsfall um einen schwarzen Teenager und dessen Mörder, George Zimmerman. Als Seifenoper inszeniert, dominierte der Fall die Berichterstattung von Fox News, CNN und MSNBC, der drei grössten Kabel-News-Sendern des Landes während Wochen.

«Ich glaube nicht, dass die Amerikaner das wollen. Ich glaube, es ist einfach das, was ihnen zur Verfügung steht», sagte die Chefin von Al Jazeera America, Kate O'Brian, dem Radiomagazin «On The Media». «Es ist auch eine Geldfrage. Es ist viel einfacher für das Kabelfernsehen, einen Gerichtsfall zu übertragen. Da haben sie Video, das ihnen zur Verfügung gestellt wird und das den ganzen Tag läuft. Dafür muss man kein Geld ausgeben. Wir haben glücklicherweise die Mittel, Geschichten zu recherchieren, die überall auf der Welt und überall in den USA passieren.»

Um Geld muss sich Al Jazeera America tatsächlich keine Sorgen machen. Hunderte Millionen seien in den US-Ableger investiert worden, erklärten die Manager im Vorfeld. Damit wurden rund 900 Menschen eingestellt, fast die Hälfte davon Journalisten, und zwölf Büros in den USA eröffnet.

Auch der Zugang zum amerikanischen Publikum liess sich der Sender einiges kosten. Für eine halbe Milliarde Dollar kaufte Al Jazeera den Kanal von Ex-Politiker und Aktivist Al Gore, und damit den Weg in fünfzig Millionen amerikanische Haushalte.

Stars bei der Konkurrenz eingekauft

Die Stars des neuen Senders werden dem amerikanischen Publikum bekannt vorkommen. Viele kommen vom Konkurrenten CNN, der Nummer zwei im Markt, andere von CBS, NBC oder ABC.

Joie Chen, früher bei CBS, ist Moderatorin der Flaggschiff-Show «America Tonight», und erzählte in der New York Times von den Vorteilen einer reichen Besitzerin. Über Geld rede da niemand: «Ist das eine gute Story? Ja, das ist eine gute Story. Dann los, erzählen wir sie!»

Genau wie die Hoffnungen kommt auch die Kritik am neuen Sender von allen Seiten: Wie Umfragen von Al Jazeera selbst zeigten, sieht die US-Öffentlichkeit in Al Jazeera einen anti-amerikanischen Sender. Dass das Management solche Umfragen überhaupt gemacht hat, empörte einen prominenten Mitarbeiter des arabischen Vorbilds so sehr, dass er in einer E-Mail an die Geschäftsleitung schrieb: Es sei «schändlich», eine solche Frage zu stellen. Eine englische Zeitung, die in die USA expandierte, würde eine solche Frage schliesslich auch niemals stellen.

Greenwald: «Kastriert und regierungstreu»

Auch Glenn Greenwald, der Journalist, der kürzlich mit Enthüllungen über den amerikanischen Geheimdienst weltweit Schlagzeilen machte und dessen Arbeit in der Vergangenheit auch von Al Jazeera gezeigt wurde, gab sich pessimistisch. Mutiger, andersartiger Journalismus sei in der US-TV-Landschaft dringend nötig, schrieb er: «Ein neuer Sender mit einem neuen, aggressiven, investigativen Ansatz und einer globalen Marke könnte sicher Erfolg haben.» Doch der Sender scheine einen anderen Weg zu gehen, und sich für ein «kastriertes, regierungstreues» Modell zu entscheiden. So wie die andern eben auch.

Am Dienstag, neun Uhr abends Schweizer Zeit, geht Al Jazeera America auf Sendung. Wie es sich wirklich vom Rest der US-TV-Nachrichten unterscheidet, dürfte sich erst in einiger Zeit zeigen. Etwas ist aber jetzt schon klar: Die Werber sind so kritisch, dass die Zuschauer weitgehend von Spots verschont werden. Sechs Minuten Werbung pro Stunde kündigte der Sender an.

Der beste Beweis, dass Al Jazeera America anders ist: Bei der Konkurrenz ist ein Viertel jeder Stunde für Werbung reserviert.

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