Die Macht einer Kathedrale spüren nicht nur Gläubige. Selbst ein hartgesottener Atheist wie der Philosoph Alain de Botton muss zugeben: Die Religionen sind unübertroffen, wenn es darum geht, die Menschen zu erreichen. «Die moderne Welt geht davon aus, Religion sei nicht wahr und die Bedürfnisse des Menschen seien mit Wissenschaft, Business und Unterhaltung zu stillen. Das Problem ist nur, dass all dies nicht stark genug ist», meint de Botton.
Er wuchs strikt atheistisch auf, im Glauben, dass Religion lächerlich sei. Und begann irgendwann zu zweifeln. Denn vieles, was dem Ästheten de Botton gefällt, ist Teil von Religionen: Musik, Kunst, Gebäude, Philosophie, Gemeinschaftlichkeit, Rituale – und eben Architektur.
Beruhigende Kirchen-Architektur
Warum funktioniert eigentlich eine Kathedrale, fragte sich de Botton. «Jemanden in einen riesigen, elegant entworfenen Raum zu bringen, heisst, ihm eine neue Perspektive geben. Wenn man eine Kathedrale betritt, sind die persönlichen Probleme plötzlich winzig klein. Das beruhigt jeden sofort», meint der Philosoph. Dieser beruhigende Effekt stellt sich nicht durch den Glauben an Gott ein. Es ist die Architektur, die das macht.
Also sollten wir heute unsere Architekten einladen, solche Effekte ausserhalb religiöser Strukturen herzustellen. Weil wir diese Wirkungen brauchen - auch, wenn wir nicht gläubig sind. Denn ein Ende des Glaubens muss nicht unbedingt auch ein Ende der Ära der Tempel bedeuten. Auf unserem Planeten gebe es Platz genug für so viele unterschiedliche Tempel, wie es unterschiedliche Bedürfnisse gibt.
Ein neues Museumskonzept
De Botton meldet sich regelmässig mit philosophischen Büchern zu Alltagsthemen wie Architektur, Arbeit, Reisen oder Sex zu Wort. Den Versuch in der heutigen Zeit, quasireligiöse Bedürfnisse durch Kultur und Bildung zu stillen, findet er verführerisch. An Material, das die heilige Schrift im Alltag ersetzen kann, fehle es nicht. Dafür am Wissen, dieses Material richtig einzusetzen, findet de Botton und nennt als Beispiel grosse Museen, die architektonisch wie moderne Kathedralen angelegt sind.
Museen könnten nach Ansicht des Autors wie ein Spaziergang durch wichtige Ideen der Menschheit aufgebaut sein. In der Realität bleibe die Präsentation von Kunstwerken häufig unter deren Möglichkeiten. Der emotionale Wert der Kunst werde nicht in den Vordergrund gestellt. Statt sich von der Kunst «retten» zu lassen und auch mal vor einem Gemälde ergriffen niederzuknien, müssen wir uns meist cool und nüchtern entlang nüchterner kunstgeschichtlicher Pfade oder vager kuratorischer Vorgaben entlang bewegen.
Weil der Mensch aber geleitet werden wolle, hält sich de Botton in seinem Buch nicht mit praktischen Anregungen zurück. So macht er einen konkreten Vorschlag, wie er die Tate Gallery in London neu sortieren würde, wenn man ihn nur liesse.
Jede Idee braucht gute Redner
In der Londoner Innenstadt hat Alain de Botton vor fünf Jahren die «School of Life» ins Leben gerufen. Denn er ist der Überzeugung, dass auch die säkulare Gesellschaft ihre eigenen Institutionen braucht, die die Rolle der Religionen «übernehmen» können. Mit seiner «Lebensschule» möchte er auf menschliche Bedürfnisse eingehen, die ausserhalb von Politik, Familie, Kultur und Arbeit liegen.
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«In der School of Life nehmen wir einige Dinge auf, die Religionen gut können. Sie befassen sich damit, wie wir leben, lieben, sterben, mit den zentralen Fragen. Auf weltlichen Pfaden suchen wir die Antworten oft umsonst. Vielleicht im Internet, in einem Buch. Dies ist ein Treffpunkt, eine Art Kirche, wo solche Fragen gestellt werden. Sie finden Gesprächspartner, es gibt Therapien, Beratungen. Ein Shop für ihre tiefsten Bedürfnisse, für ihre Seele, sozusagen.»
De Botton versammelt die städtischen Nicht-Gläubigen, die in der Gemeinschaft die Kraft der Musik und guter Reden erleben. Zu kirchlicher Zeit am Sonntagmorgen hört man gemeinsam «Sermone». Erbauliches von Wortgewaltigen, Themen, die man auf keiner Schule pflegt: Wie lerne ich Achtsamkeit? Wie viel Schaffenskraft steckt in der Musse? Wie finde ich den Weg zum besseren Leben?
Gute Redner sind dabei entscheidend: «Das Christentum hatte in seiner Geschichte immer wieder richtig gute Prediger – Leute, die wussten, wie man reden muss. Nicht nur was man zu sagen hat, sondern wie. Wir scheinen das heute vergessen zu haben. Die moderne Welt ist eher skeptisch gegenüber guten Rednern. Ich bin überzeugt: wir brauchen gute Botschaften und ebenso die Kunst, sie gut rüberzubringen.»
Ein Tempel für Atheisten von Zumthor
Auch mit seiner Vision, zeitgenössische Tempel zu bauen, macht Alain de Botton Ernst. Dafür hat er sich einen Hohepriester der Baukunst, den Star-Architekten Peter Zumthor, ins Boot geholt. Denn Zumthor verstehe es Gebäude zu bauen, die den Geist religiöser Bauten atmen.
Für die Initiative «Living Architecture» bauen die beiden im südenglischen Devon ein «Secular Retreat» – einen Rückzugsort, eine Art Einsiedelei für Atheisten. Wo man sich wie im Kloster versenken kann. Ganz ohne Gott. Denn erst heute, im Zeitalter des Blackberries, erkennen viele Menschen, wofür man einst Klöster erbaut hat.
Proteste von Gläubigen hat Alain de Botton, der weltliche Tröster, bisher wenig bekommen. Dafür von den englischen «Hardcore-Atheisten», den Anhänger von Richard Dawkins. Diese unterstellen ihm, eben doch religiös zu sein – oder gar ein Geheimagent der Religionen. Wie auch immer – als Missionar für die verlorenen Seelen jedenfalls ist Alain de Botton echt brillant.