Als Fünfjähriger nässte er noch ein. Also wurde er in ein Kinderheim geschickt. Für zwei lange Jahre. Dort wurde er von seinen Eltern nie besucht. Die Millers hatten genügend Sorge mit der neugeborenen Schwester, einem Mädchen, das an Trisomie 21 litt, dem Down-Syndrom.
Irgendwann durfte er wieder heim. Heimelig war es da nie. Martin wurde von seinem intellektuellen Vater geschlagen und als Dummkopf gedemütigt. Die Mutter, Alice Miller, Bestsellerautorin und Kindheitsforscherin hat dabei zugesehen und den Sohn nicht geschützt.
Die Tragödie der Mutter
Heute ist Martin Miller ein erfahrener Psychotherapeut. Er hätte allen Grund mit der berühmten Mutter abzurechnen. Das tut er aber nicht.
In seinem jüngst erschienenen Buch «Das wahre Drama des begabten Kindes» schildert der 63-jährige Sohn die Tragödie seiner berühmten Mutter.
Schon früh rettete Alice, ebenso verwöhntes wie begabtes Kind einer wohlhabenden jüdisch-polnischen Familie, Mutter und Schwester vor der Vernichtung durch die Nazis.
Drei Jahre nach Alice Millers Freitod im selbstgewählten Exil in Südfrankreich legt Martin Miller eine Analyse vor, in der er das grosse Werk seiner Mutter würdigt.
Vorstoss in die Verschwiegenheit
«Es war nicht schön, Alice Millers Sohn zu sein. Im Gegenteil.» schreibt Miller im Klappentext zu seinem vielbeachteten Buch. «Und trotzdem war meine Mutter eine grosse Kindheitsforscherin. In diesem Buch versuche ich nun, diese beiden Welten in einen Zusammenhang zu bringen.»
Nie hat das Kind Martin etwas über das Judentum erfragen dürfen. Nie durfte er in die polnische Sprachwelt seiner Eltern eintauchen. Das Schweigen über das was war, war ein übermächtiges Gebot im Hause Miller. Der Sohn sollte ein richtiger Schweizer werden. Eine Zwangsverkörperung des Überlebens.
Der sensible Hüne
Ich treffe die «Zwangsverkörperung» in seiner sehr gepflegten Psychotherapiepraxie in Uster. Ein Riesenmann mit schwerem Schritt und tiefer Stimme. Es ist für Martin Miller nicht leicht, konfrontiert zu werden mit den Sätzen seiner Mutter, aufgenommen im Jahr 1987 für eine bahnbrechende Sendung zum Thema «Sexuelle Gewalt an Kindern durch ihre Bezugspersonen». Dank ihrer parteilichen Haltung für das abhängige Kind wurde ein Tabu in der Schweiz gebrochen.
Nie hat der Sohn sexuelle Gewalt erfahren. Aber Übergriffe auf seine Gefühlswelt schon. «Meine mächtige Mutter wusste immer, was ich fühlte, wie es mir ging. Sie beanspruchte die Definitionsmacht über meine Gefühle.»
Durch die Mauer des Schweigens gedrungen
Dank dem Werkzeugkasten des Psychologen und Psychotherapeuten sind nun die Wunden seiner Kindheit geheilt. Sein Buch ist nicht nur ein Reifezeugnis, sondern auch eine Rückeroberung der eigenen Familiengeschichte.
Martin Miller führte viele Gespräche mit Menschen, die die Mutter gut kannten. Er erforschte Überlebensmechanismen von Holocaust Überlebenden. Er reiste nach Amerika, um fernere und nahe, verloren geglaubte Verwandte zu besuchen und zu befragen.
«Die Tragödie Alice Millers» ist nicht mit leichter Feder geschrieben. Aber es hat sich gelohnt. Für die Leser bietet es eine minutiöse Anatomie einer Abspaltung. Und der Sohn, der durch die Schweigemauer gedrungen ist, sitzt tief in seinem Therapeutensessel, lächelt und sagt: «Nun habe ich eine ganz andere Lebensqualität».