Die Unternehmen rufen nach einer längeren Arbeitszeit. Ihr Verhalten jedoch widerspricht dieser Forderung. «Leute über 50, die ihre Stelle verlieren, finden kaum mehr einen neuen Job», sagt der Arbeitsmediziner Dieter Kissling. Ältere Angestellte als veraltete Modelle mit leeren Batterien – dieses Bild stecke noch zu vielen Personalchefs in den Köpfen. Auch Markus Jordi, Personalchef der SBB, bestätigt diese Diagnose: «Es braucht in der Wirtschaft ein Umdenken.»
Ab 30 baut der Körper ab
Im Laufe des Lebens baut der Körper ab – eine Tatsache. Ab 30 schwindet die Muskelkraft jährlich um 1 Prozent, das Sehen und Hören vergeht uns, wir verarbeiten Informationen immer langsamer. Aber ältere Menschen gewinnen auch Stärken dazu, sagt Arbeitsmediziner Kissling: «Sie haben einen besseren Überblick, arbeiten oft besser im Team und sind loyaler.» Entgegen dem Vorurteil nimmt die Lernfähigkeit mit dem Alter nicht ab. Einzig unter Zeitdruck sei die Lernfähigkeit nicht mehr so gut, sagt Kissling.
Ein Plus von Älteren ist ihr Erfahrungsschatz. «Dieser Aspekt ist für die SBB enorm wichtig», sagt Personalchef Jordi. Die Bahn habe viele alte Systeme, die nur mit dem Wissen der älteren Angestellten betrieben werden könnten. Mittlerweile setzen die SBB darum auch auf sie, sagt Jordi: Die Bahn versucht, die Arbeitsbedingungen für Ältere anzupassen und sie hat in den letzten Jahren mehr als 550 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über 50 eingestellt.
Sinn wird wichtiger als Lohn und Karriere
Allerdings braucht es grosse Veränderungen, damit das Arbeiten über 65 hinaus wirklich möglich wird. Ältere Menschen schlafen zum Beispiel nicht mehr so gut, brauchen häufiger Pausen. Das heisst, Schicht- und Einsatzpläne müssen angepasst werden. Dies gilt für die SBB, aber auch für die vielen Berufstätigen in der Pflege. Die SBB sind deshalb dabei, mit den Gewerkschaften neue Arbeitszeitmodelle zu entwerfen. In einem Modell reduzieren die Angestellten ab einem gewissen Alter ihr Pensum und arbeiten dafür über das Alter von 65 hinaus.
Auch das Pflichtenheft muss angepasst werden, sagt Arbeitsmediziner Kissling: weg von der Arbeit im engen Aufgabenkorsett hin zur Betreuung und Beratung der jüngeren Kolleginnen und Kollegen. Das trägt den veränderten Ansprüchen älterer Mitarbeiter Rechnung: Sie legen im Allgemeinen mehr Wert auf den Sinn ihrer Arbeit als auf Lohn und Karriere.
Weitergabe von Erfahrung
Teilzeit im Alter, mehr Zeit für Coaching und die Weitergabe von Erfahrung – dies sind auch für den Hautarzt Peter Gutzwiller wichtige Massnahmen, damit Arbeiten über 65 möglich ist. Der 72-Jährige weiss, wovon er spricht: vor fünf Jahren hat er seine eigene Praxis aufgegeben und arbeitet heute Teilzeit in einer anderen Arztpraxis mit.
Peter Gutzwiller kann sich nun mehr Zeit nehmen für seine Patientinnen und Patienten und so viel arbeiten, wie es ihm passt. Die veränderten Arbeitsbedingungen sind für ihn ein Erfolg: «Ich freue mich jeden Tag, wenn ich arbeiten gehe. Ich geniesse die Arbeit eher noch mehr als früher.»