Stefan Selke geht es nicht um Statistiken. Er verliert sich auch nicht im Streit um Armutsdefinitionen, der letztlich dazu führt, die Existenz von Armut in Staaten der ersten Welt zu verwedeln. Selke geht es um die Menschen, die arm sind. An denen das Stigma des «Faulen», des «Schmarotzers» haftet, weil sie die Angebote privater Träger des Sozialsystems nutzen – nutzen müssen. Denn niemand geht da freiwillig und zum Spass hin.
Private Sozialhilfe
Im Zentrum der Untersuchung des 1967 geborenen Soziologen und Professors an der Hochschule in Furtwangen im Schwarzwald stehen die «Tafeln». So heissen in Deutschland die Mittagstische, bei denen günstig essen kann, wer sich als bedürftig ausweisen kann. Selbst eine Mahlzeit für 1.50 Euro kann für einen Menschen eine finanzielle Belastung sein, sie entlastet jedoch die Haushaltskasse. Denn für 1.50 isst sich zuhause niemand satt. Bei vielen Tafeln gibt es zudem kostenlose Lebensmittel, gespendet von Supermärkten, die so ihre Überschüsse entsorgen.
In diesen Tafeln sieht Stefan Selke einen doppelten Skandal: Einerseits, dass in einem der reichsten Staaten der Welt so eklatante Armut überhaupt existiert; und andererseits, «dass der Staat die Grundversorgung immer weiter an die Zivilgesellschaft delegiert». Private Spender und private Sozialeinrichtungen kümmern sich um die, bei denen der Sozialstaat sich aus der Verantwortung stiehlt.
Zeugnisse von Armen
«Dass sich so viele Menschen an eine private, von der Wirtschaft abhängige Laienorganisation wenden, um essen zu können. Da muss man doch als Politiker vor Peinlichkeit unter die Decke kriechen.» So zitiert der Soziologe mit Lehrgebiet «Gesellschaftlicher Wandel» einen Nutzer einer solchen Tafel.
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Zwei umfangreiche Kapitel seines Buches («Trostbrot» und «Chor der Tafelnutzer») – fast die Hälfte des Buchumfangs – hat Stefan Selke aus wörtlichen Aussagen der 110 Personen zusammengebaut, mit denen er für «Schamland» gesprochen hat. Er inspirierte sich dafür erklärtermassen an Walter Kempowskis «Echolot». Die protokollierten und thematisch gesammelten Aussagen schockieren. Weil sie offenlegen, dass in unserer unmittelbaren Nähe, bei uns, grösste materielle Not herrscht.
Ausgestossen aus der Gesellschaft
Und damit auch grösste psychische Not. Denn der gesellschaftliche Diskurs ist härter geworden. Verlangt wird Eigeninitiative, verteilt werden Schuldgefühle, an die, die es nicht geschafft haben, ausgeteilt wird Scham, «die Angst vor der Geringschätzung durch andere» (Selke). Und diese Geringschätzung wischt die Armut, ja die Armen aus den Augen, aus dem Sinn. Sie sind aus der Gesellschaft ausgestossen.
«Die neue Armut ist vor allem eine einsame Armut», schreibt Stefan Selke. Denn die Betroffenen verstecken sie vor ihrem Umfeld, aus Scham. Denn er habe bei seinen «Gesprächen hautnah erfahren, wie schnell Armut von sozialen Kontakten ausschliesst und wie klein dann die eigene Welt wird».
Optimierungsdruck überall
Heute treibe eine neue Wirtschaftsordnung den Sozialstaat vor sich her. Das sei Ausdruck einer «Ideologie, die auf Verlierer immer weniger Rücksicht nimmt». Die Ökonomisierung der Gesellschaft, der Optimierungsdruck radiere alle weg, die keine Rendite brächten.
Selkes Befunde sind hart, aber durch unzählige Beispiele unterlegt. Spenden und Almosen könnten bestimmt die ärgste Not etwas lindern. Was den Armen jedoch fehle, seien Perspektiven, Möglichkeiten, um nochmals neu anzufangen. Und – wegen der Beschämungs- und Ausschlussmechanismen – die Energie dazu. Es fehle grundsätzlich «eine Strategie für eine würdevolle Existenz als Mensch inmitten einer reichen Gesellschaft». Ein schockierendes Buch.