Es ist kein Vermächtnis, sagt Arno Gruen über sein neuestes Werk. Und doch lässt er in diesem nochmal die grossen Themen seines Lebens Revue passieren. Empathie steht im Zentrum seiner Untersuchung. Für ihn ist das die logische Konsequenz aus der Beschäftigung mit der Frage «Wie kommt das Böse in die Welt?», die seine gesamte Arbeit als Therapeut und Autor durchzieht.
Arno Gruen ist nicht müde, Liebe und Mitgefühl als die Säulen des Menschseins auszumachen. Wer den 90-jährigen Psychoanalytiker in der Praxis seiner Wahlheimat Zürich besucht, begegnet einem leidenschaftlichen und unerbittlichen Zivilisationskritiker. In Berlin wurde er als Sohn jüdischer Eltern geboren und emigrierte 1936 über Polen und Dänemark in die USA, studierte in New York Psychologie und promovierte beim Freud-Schüler Theodor Reik.
Über Entstehung und Verlust des Mitgefühls
Arno Gruen liefert ein leidenschaftliches Plädoyer für Empathie, eigentlich eine angeborene Eigenschaft, die dem modernen Menschen im Laufe der ersten zwei Lebensjahre abhanden kommt. Im besten Fall wird sie durch etwas ersetzt, was Gruen «kognitive Empathie» nennt. Er meint damit eine vom Verstand gesteuerte, aber nicht die ursprüngliche von der Emotion her kommende Empathie.
Der Verlust des Mitgefühls entsteht, weil der Mensch von Anfang an lernt: Kampf und Konkurrenz sind die Triebkräfte des Daseins. Kinder lernen Feind-Denken. Andere Bewusstseinszustände werden als naiv eingestuft, als unrealistisch, als schwach. Empathische, dem Menschen zugewandte Wahrnehmungen werden unterdrückt und unser Bewusstsein wird auf abstrakte kognitive Ideen, über das, was Realität ist, reduziert.
Eine Ursache dafür sieht der klassische Psychoanalytiker in einer Eltern-Kind-Bindung, die aufgebaut ist auf Belohnung und Bestrafung. Je nach Behandlung im Säuglingsalter lernt das Kind seine Gefühle – die sich durch Schreien äussern – zu akzeptieren oder als Belästigung der Eltern zu unterdrücken.
Beiträge zum Thema
Gruen meint: Diese Zivilisation produziert Menschen, die standardisiert sind, die Angst haben, als Aussenseiter zu gelten. Und das, obwohl sich alle heute für Individualisten halten. So kommt zustande, was der englische Dichter Edward Young im 17. Jahrhundert folgendermassen formulierte: «Wir werden als Originale geboren, sterben aber als Kopien.»
Eigentlich eine sehr düstere Erkenntnis. Aber wer bei Arno Gruen Düsternis entdeckt, findet im Kern einen unerschütterlichen Glauben an das Gute. Denn Arno Gruen ist sich sicher: Der Mensch ist von Anfang an gut. Und wir unterliegen einem Irrtum, wenn wir glauben, das Leben sei ein einziger Kampf und es ginge ums Fressen und Gefressen werden. «Homo homini lupus est» («Der Mensch ist den Menschen ein Wolf») ist gemäss Gruen kein natürliches Gesetz, sondern ein von Menschen gemachtes und unhinterfragtes Konzept.
Zivilisation ist Kooperation, nicht Konkurrenz
Denn Zivilisation ist aufgebaut auf Kooperation und nicht auf Konkurrenz. Mit dieser Erkenntnis befindet sich Gruen in einer illustren Gesellschaft mit zahllosen anderen Psychologen, Anthropologen, Philosophen, Schriftstellern und Künstlern. Gruen will einen Perspektivenwechsel. Weg von den Standardeinstellungen im Kopf.
Das ist sicherlich der grösste Verdienst von Arno Gruens Plädoyer. Er setzt beim Leser einen Denkprozess in Gang, an dessen Ende auf jeden Fall eines ganz sicher steht: Wir haben verlernt, autonom zu denken und zu fühlen, unabhängig davon, was in unserem Bewusstsein verhaftet ist. Wir staunen darüber, wie stark die Denkmuster sind, die Erziehung und sozialer Wirklichkeit zugrunde liegen. Sie werden nicht mehr hinterfragt. Der alltägliche Kampf wird als «naturgegeben» hingenommen.
«Freiwillige Knechtschaft» nannte der Philosoph Kropotkin das schon vor hundert Jahren. Arno Gruen plädiert nicht nur für Empathie, sondern auch für Ungehorsam.