Der eine ein Abenteuer-Junkie mit Lonely-Planet-Reiseführer in der Hand, der andere ein frommer Wanderer, dessen Rucksack eine Jakobsmuschel ziert. Was auf den ersten Blick nach gegensätzlichen Lebensauffassungen aussieht, entpuppt sich als durchaus ähnlicher Antrieb. «Der typische Pilger, die typische Backpackerin brechen aus ganz ähnlichen Gründen auf», sagt der Religionswissenschaftler und Ethnologe Tommi Mendel. «Meist sind es Menschen in einer Übergangssituation, sei das das Ende eines Studiums, eine Kündigung oder aber auch eine Pensionierung.»
Für seine Dissertation in Religionswissenschaft an der Universität Zürich hat sich Tommi Mendel an die Fersen von zwei jungen Frauen geheftet. Drei Jahre lang, vor, während und nach deren Reisen. Eine der beiden hat sich nach dem Studium entschlossen, fünf Wochen lang auf dem Jakobsweg zu pilgern. Die andere hat ihr Studium unterbrochen und ist mit dem Rucksack sechs Wochen durch Laos, Thailand und Kambodscha gereist.
Entstanden ist eine Doktorarbeit in Filmform. «Common Roads» ist bereits auf ethnografischen und anthropologischen Filmfestivals gezeigt worden. Etwa in Vietnam, in Mazedonien, in Island.
50-mal mehr Pilger in 20 Jahren
«Spannenderweise sind die Destinationen Jakobsweg und Südostasien etwa zur gleichen Zeit sehr populär geworden», so Tommi Mendel. Waren es 1990 gerade einmal 5000 Pilger auf dem Jakobsweg, gingen 2013 mehr als 200'000 Menschen auf dem «Camino». Und: Reisen in Laos und Kambodscha ist aus politischen Gründen erst in den 1990er-Jahren möglich geworden.
Beide Reiseformen hätten es heute zur Massentauglichkeit gebracht. «Es ist günstig, als Pilger oder als Backpacker unterwegs zu sein», meint Tommi Mendel. «Dazu kommt: Die Absteigen von früher sind heute sehr komfortabel. Man kann sich mit Reiseführern auch in Laos gut orientieren; weiss, wo man essen gehen soll.»
Es seien längst nicht mehr nur 20- bis 30-Jährige, die mit dem Rucksack auf dem Rücken reisen. «Gerade auf dem Jakobsweg habe ich viele angetroffen, die sich nach der Pensionierung den Camino vorgenommen haben.»
Das Leben aus anderer Perspektive
Tommi Mendel hat während der Aufnahmen für seine Dissertation, aber auch auf eigenen Reisen festgestellt: Pilger sind nicht mehr zwingend christlich, und Rucksack-Touristen jagen nicht unbedingt dem Adrenalin-Kick hinterher. «Vielmehr sind beide auf der Suche. Es mag abgedroschen klingen, aber: Sie sind auf der Suche nach Sinn, nach anderen Perspektiven auf ihr Leben, nach alternativen Formen von Spiritualität», sagt der Religionswissenschaftler.
Er sieht darin eine Reaktion auf die Rahmenbedingungen, unter denen wir leben: «Eine Rucksackreise durch Südostasien oder das Pilgern auf dem Jakobsweg kann ein Umgang sein mit dem Druck in der eigenen Gesellschaft. Unterwegs ist man frei von alledem und kann anderen Reisenden ohne sein ‹Alltagsgepäck› begegnen.» Die Gemeinschaft unter den Pilgern, aber auch unter den Backpackern spiele daher eine grosse Rolle. «Man trifft immer wieder auf dieselben Leute, reist zusammen weiter. So entstehen neue Zugehörigkeiten», sagt Tommi Mendel.
Von Santiago de Compostela ins Ashram
Konfession im strengen Sinne spiele dabei nicht zwingend eine Rolle. Es seien alternative Formen von Spiritualität, die sowohl Pilger als auch Backpacker ansprächen: «Paulo Coelho zum Beispiel ist sehr beliebt unter den Camino-Pilgern. Oder spannend ist auch, dass einige, kaum in Santiago de Compostela, dem Ziel des Jakobswegs, angekommen, gleich nach Indien weitergeflogen sind, um dort in einem Ashram zu leben.» Spiritualität im hinduistischen Meditationszentrum.
Dieser Mix von christlichem Jakobsweg und hinduistischen «Rückzugsferien» sei bezeichnend für die Religiosität, wie sie heute gelebt werde. Tommi Mendel: «Religiosität ist nicht rückläufig, sondern hat plurale Züge angenommen. Und so sind sowohl Pilger als auch Backpacker auf einer religiösen Reise.»
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Kompakt, 7.8.2014, 17:45 Uhr.