Das Postauto zwängt sich die engen Kurven vom Malojapass ins Bergell hinunter. Rechts und links schroffe Felswände, zuoberst auf den Gipfeln scheint die Morgensonne. Hier im Tal sind die Menschen im Winter zwei Monate im Schatten. Ich bin unterwegs zu Renata Giovanoli-Semadeni, einer der umtriebigsten Vermittlerinnen der Bergeller Kultur und des lokalen Dialekts, des Bargaiot.
Im alten Bergeller Dorf Vicosoprano begrüsst mich eine zierliche Frau mit strahlenden Augen mit einem herzlichen «Bun di». Der Gruss unterscheidet sich nicht vom Engadiner Romanischen auf der anderen Seite des Malojapasses. «Für die Italiener klingt unser Dialekt wie Rätoromanisch. Die Rätoromanen wiederum hören im Bargaiot das Italienische», lacht Renata Giovanoli-Semadeni. «Das Bargaiot ist eine gute Mischung aus beiden Sprachen, mit einigen Einflüssen aus dem Schweizerdeutschen.» So sagten sie etwa «Brona» für «Brunnen».
Von der Zettelsammlung zum Wörterbuch
In der Wohnküche ihres Hauses am Dorfrand zeigt mir die Sprachvermittlerin eine Reihe Bergeller Bücher: Gedichtbände, Jahreskalender und das neu erschienene zweibändige Wörterbuch. Geschrieben hat es der pensionierte Pfarrer Luigi Giacometti.
In den 1990er-Jahren begann er, auf verstreuten Notizzetteln Bergeller Wörter zu sammeln. Mit der Hilfe eines Teams von Lokalhistorikern, Linguistinnen und Dialektforschern – darunter auch Renata Giovanoli-Semadeni – wurde daraus das «Dizionario del dialetto bregagliotto».
Sprache als Zeugin vergangener Welten
«Die Bergeller waren früher viel unterwegs als Zuckerbäcker oder Söldner. Alle brachten Wörter mit nach Hause, die sie in der Fremde aufgeschnappt hatten», erzählt Renata Giovanoli-Semadeni. So sei die eigentümliche Mischung des Bergeller Dialekts entstanden. Das in der Kehle gebildete «R» und die vielen «Äs» und «Üs» machen den charakteristischen Klang des Bargaiot aus.
Bargaiot sei mehr als ein Dialekt, sagt Renata Giovanoli-Semadeni: «Es sind unsere Bräuche, die Verse, die die Grossmutter erzählte, unsere ganze Lebensweise.» Doch die traditionelle Lebensweise der Bergbauern existiert heute nicht mehr. Und so ist das Bergeller Wörterbuch auch Zeuge einer untergegangenen Welt bergbäuerlichen Lebens.
Dem Begriff «falc», Sense, beispielsweise widmet es einen langen Artikel mit allen Wörtern, die die Bergeller Bergbauern früher benutzten, um die Beschaffenheit einer Sense zu beschreiben. «Heute braucht man zum Mähen eine Maschine, den ‹Jackyboy› – auf gut Bargaiot», scherzt die Sprachvermittlerin.
SMS auf Bargaiot
Sprache passt sich dem Wandel der Gesellschaft an, das gilt auch für den Bergeller Dialekt. So benutzen Jugendliche das Bargaiot weiterhin, mischen nach Lust und Laune mit italienischen und englischen Ausdrücken und schicken einander auch SMS im Dialekt. «Dass sie dabei eine eigenwillige Schreibweise verwenden, stört mich nicht», sagt Renata Giovanoli-Semadeni. «Hauptsache, sie brauchen den Dialekt.»