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Ein Soldat an einer so genannten «Flags-In»-Zeremonie auf einem Friedhof in Washington.
Legende: Ein Soldat an einer so genannten «Flags-In»-Zeremonie auf einem Friedhof in Washington am Memorial Day. Reuters

Gesellschaft & Religion Damit Suizid nicht der letzte Ausweg bleibt

Janine Lutz’ Sohn kämpfte im Irak und in Afghanistan. Als er von der Front zurückkehrte, beging er Suizid. Damit sein Tod nicht sinnlos war, gründete seine Mutter eine Stiftung. Ihr Ziel: Die Bevölkerung aufklären, Veteranen vernetzen, Suizidgedanken bekämpfen.

Ein kleines Häuschen aus den 50er-Jahren. Es gehört dem Frauenverein von Davie, einer Stadt im Süden Floridas. Die Damen des Clubs stellen es Janine Lutz kostenlos zur Verfügung. Frauensolidarität für eine Sache, die vom Gros der amerikanischen Gesellschaft nur allzu gern verdrängt oder vergessen wird: dass in den USA rund 17 Millionen ehemalige Militärangehörige leben, die in Kriegen fernab der Heimat Kopf und Kragen riskierten, um Interessen und Werte der USA zu verteidigen.

Viele von ihnen kehrten körperlich und psychisch schwer gezeichnet von der Front zurück, schafften den Wiedereinstieg ins zivile Leben nicht, sind arbeitslos und manche ohne Dach über dem Kopf. Nach Untersuchungen des Veteranen-Ministeriums nehmen sich inzwischen jährlich über 8000 ehemalige Soldaten – und zunehmend auch Soldatinnen – das Leben.

Soul-Food für Traumatisierte

Memorial Day

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Der Memorial Day findet jeweils am letzten Montag im Mai statt – dieses Jahr am 26. Er ist den Gefallenen früherer Kriege gewidmet. Viele Hinterbliebene besuchen an diesem nationalen Gedenktag die Gräber ihrer Toten. Für die Mehrheit der US-Bevölkerung ist dieser Feiertag nichts weiter als der inoffizielle Sommeranfang, den man im Freien geniesst.

Janine Lutz, Besitzerin einer erfolgreichen Baustoff-Firma, öffnet den Kofferraum ihres Kombiwagens und entlädt grosse, schwere Behälter. Sie sind bis oben hin gefüllt mit Spaghetti, Salat, Würsten und Gemüse. Den ganzen Tag über ist sie in ihrer Küche gestanden und hat gekocht. Niemand soll heute Abend Hunger haben müssen.

Am 4. Januar 2013 hatte sich Janine Lutz’ 24-jähriger Sohn John mit einer Überdosis Tabletten das Leben genommen. Er war mit einer Schussverletzung am Nacken, einem gebrochenen Rücken und schweren posttraumatischen Belastungsstörungen von Afghanistan zurückgekehrt. An seinem Tod ist die Mutter beinahe zerbrochen. «Ein Kind zu verlieren, ist schon schlimm genug. Aber es an Suizid zu verlieren, ist noch schlimmer. Ich bin damit einfach nicht klargekommen.» Janine Lutz ist überzeugt: Hätten die Ärzte der Veteranen-Klinik ihren Sohn nicht nur mit Medikamenten vollgepumpt, sondern ihm wirklich geholfen, wäre er jetzt noch am Leben.

Janine Lutz hat sich deshalb nach Johns Suizid an die Kameraden seiner Einheit gewandt und gefragt: «Was kann ich tun, um diese Epidemie zu stoppen?» Das Resultat war die Gründung der John-Lutz-Stiftung, die durch private Spenden finanziert wird. Ihr Ziel: Frontrückkehrern den Wiedereinstieg ins zivile Leben zu ermöglichen und die «posttraumatische Störung in posttraumatisches Wachstum» zu wandeln.

Ein Treffen wie unter alten Freunden

Ein Meer aus US-Flagen, darin eine Frau und ein Kind.
Legende: 37'000 Flaggen in Boston: Am Memorial Day gedenken Amerikaner toter Soldaten. Reuters

Die Zusammenkunft an diesem Abend ist die zweite seit der Stiftungs-Gründung. Beim ersten Mal vor einem Monat folgten der Einladung sieben Veteranen. Diesmal rechnet Janine Lutz mit etwa 15 Leuten. Gegen 19 Uhr trudeln die ersten ein: die meisten allein und zaghaft. Aber es dauert nicht lange, und es bilden sich an den Tischen kleine Gruppen. Aus dem anfänglichen Flüsterton wird bald normale Zimmerlautstärke.

Während des Essens taut die Gesellschaft dann endgültig auf. Es ist, als hätten sich gute, alte Freunde getroffen, die unbeschwert zusammensitzen. 25 sind es insgesamt, die Mehrzahl Männer zwischen Mitte 20 und Mitte 30. Aber auch ein paar junge ehemalige Soldatinnen sind dabei. Janine Lutz strahlt glückselig. Ihre Idee, Veteranen an ihrem Wohnort zu vernetzen, scheint zu funktionieren.

Ein paar Stunden Sicherheit

Fast alle, die hier sitzen, sind verwundet und traumatisiert von den Kriegen im Irak und in Afghanistan zurückgekehrt. Zum Beispiel Frank Spence Moffitt, 36. Im Mai 2013 schickte ihn die Armee nach 13 Jahren aus gesundheitlichen Gründen in Rente. Er hat starke posttraumatische Belastungsstörungen, ein schweres Rückenleiden «und ein paar weitere, kleinere Gesundheitsprobleme». Dennoch fühlt er sich «schuldig, am Leben zu sein, wo doch so viele meiner Kameraden gestorben sind.» – Suizid-Gedanken? «Ja», antwortet der Mann, der vor drei Monaten erstmals Vater geworden ist, «sehr oft. Aber bis jetzt hab ich es noch nie versucht.»

Frank Spence Moffitt ist nicht der einzige im Raum. Jeder, mit dem ich an diesem Abend ins Gespräch komme, denkt gelegentlich daran, sich umzubringen. Die von Veteranen-Ärzten verschriebenen Medikamente helfen selten. Zum Teil verstärken die Mittel gar das Suizid-Risiko. Hilfreicher scheinen Abende wie dieser hier, Anlässe, an denen sich Frontrückkehrer für ein paar Stunden aus ihren inneren Schützengräben herauswagen und angstfrei unter ihresgleichen sein können. «Hier kann ich Lächeln. Hier bin ich unter Freunden», sagt zum Beispiel der 50-jährige Mark. «Sobald ich wieder auf der Strasse stehe, setze ich meine Sonnenbrille auf und mache die Schotten dicht.»

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