Zum Inhalt springen

Gesellschaft & Religion Das Königreich Bhutan verliert die Verbindung zum Glück

Wo genau Bhutan – das «Land des Donnerdrachens» – liegt, das wissen viele Menschen nicht. Was sich aber rumgesprochen hat, das ist die besondere Bedeutung des Glücks in dem Himalaja-Königreich. Durch die mediale Invasion wachsen Konsumwünsche, und das Glück gerät in Gefahr.

Bhutan ist ein Land in der Schwebe. Neben uralten Ritualen und zeitlosen, schamanisch anmutenden Zeremonien, steht der Mikro-Sekundentakt des Internets. Seit mittlerweile 15 Jahren drängt die digitale Moderne in diese uralte Kultur. «Unsere Kinder sind mit so vielen Dingen aus der ganzen Welt konfrontiert: Sie sind Fan von den gleichen Musikgruppen wie die Kids in New York», sagt der Parlamentsabgeordnete Kinga Thering. «Früher war unser kultureller Bezugsrahmen eindeutig und klar. Das ist vorbei. Und eine riesige Herausforderung.»

Als letztes Land auf dem Planeten vernetzt

Bis vor gut 50 Jahren konnte in Bhutan eine völlig isolierte, nie kolonisierte, archaische Gesellschaft überdauern − abgeschottet von der Welt hinter den riesigen Bergen des Himalajas. Jahrhunderte lang nur durch die Trampelpfade der Yak-Hirten mit der Aussenwelt verbunden, wurde erst 1961 eine Strasse nach Bhutan gebaut. 1974 quetschte man einen ersten Flughafen zwischen die Berge der Provinzstadt Paro, der nur mit halsbrecherischen Manövern erreichbar ist. Erst 1999 bekam Bhutan als letztes Land des Planeten Fernsehen und Internet, 2003 ein Mobilfunknetz.

Nicht nur in den Städten, auch in den traditionellen Dörfern, die man nur zu Fuss erreicht, sitzen die Menschen gebannt vor den Fernsehern, mit offenem Mund und völlig absorbiert von den Konsumwelten, die wie ein medialer Tsunami das Land überschwemmen.

Kulturelle Identität als Überlebensfaktor

Zwei gute, bhutanische Bildungs- und Kulturprogramme gibt es, aber rund 50 internationale Programme, die wie Suchtmittel wirken: indische Bollywood-Seifenopern, kommerzielle US-Programme, britische News-Channels und billigstes Werbe-Fernsehen, das letztlich unstillbare Konsumwünsche in die Köpfe pflanzt.

Bhutans Kulturminister Lyonpo Damcho Dorji weiss um die grosse Gefahr dieser medialen Invasion: «Meine Aufgabe ist es, zu erhalten, was wir haben und die Traditionen zugleich so zu fördern, dass sie sich an die neuen Zeiten kreativ anpassen. So dass jeder zwar die moderne Technologie im Hinterkopf hat, aber nie vergisst, dass wir ein souveränes Land sind und diese Souveränität auf der Einzigartigkeit unserer Kultur und ihrer Traditionen beruht.»

Eingezwängt zwischen Supermächten

Bhutan, etwas kleiner als die Schweiz, liegt mit seiner Dreiviertelmillion Einwohner geographisch eingezwängt zwischen den Supermächten Indien und China. Militärisch hochaufgerüstete Atom-Staaten, die sich in den letzten Jahrzehnten die alten Himalaja-Königreiche einverleibt haben: China griff nach Tibet, Indien nach Ladakh und Sikkim.

Da wurde für Bhutan die kulturelle Identität zum Überlebensfaktor gegen den Hunger der imperialen Mächte. «Wir haben nur unsere Kultur, unsere Identität und unsere Philosophie des ‹Brutto-National-Glücks›, die der König von Bhutan anregte», sagt die Journalistin Sonam Ongmo, Herausgeberin des kritischen sozialpolitischen Magazins «The Raven».

Das «Brutto-National-Glück»

Tatsächlich ist es dem winzigen Bhutan gelungen, sich zwischen den militärischen Supermächten Indien und China mit der Idee des «Brutto-National-Glücks» als eine Art moralische Macht zu etablieren, die alle Welt in Staunen versetzt. Wer so im Mittelpunkt des Interesses steht, der kann nicht einfach geschluckt werden. Die Idee dahinter ist, sich bei der wirtschaftlichen Entwicklung zuallererst auf das Wohlergehen der Menschen zu konzentrieren und ihr persönliches Glück und ihre Zufriedenheit zum Massstab des Fortschritts zu machen.

Konsequenter Umweltschutz, eine ausschliesslich nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung, eine korruptionsfreie, demokratische Regierungsführung und der Schutz der kulturellen Traditionen sind die vier Säulen dieser Politik. Doch gerade der durchaus wünschenswerte Schutz der kulturellen Traditionen macht dem Land die grössten Probleme.

Lebensqualität statt Lebensstandard

Bhutan stellt sich der Herausforderung, als Entwicklungsland mit zunehmender Arbeitslosigkeit und wachsenden Drogenproblemen trotzdem beim Ziel des nationalen Glücks zu bleiben. Das Land appelliert an seine Bevölkerung, die alten Werte zu leben, aber lässt es zu, wenn man – wie bislang nur eine Minderheit – eigene Wege gehen will.

In Bhutan ist ein Modell entstanden, das eine Alternative zum Wachstumswahn des Westens darstellt. Lebensqualität statt Lebensstandard lautet das Kulturmodell vom Dach der Welt; mehr Zufriedenheit mit weniger Konsum, mehr innerer als äusserer Reichtum. Noch gelingt der Spagat zwischen Kulturbewahrung und Öffnung zur Welt. Doch es ist ein kritischer Moment für das Land und niemand kann voraussagen, wohin der rasante Wandel das Land in den nächsten Jahren führen wird.

Meistgelesene Artikel