Der kenianische Präsident Uhuru Kenyatta kann aufatmen. Der Prozess, den der Internationale Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag gegen ihn anstrebte, ist vom Tisch. Mangels Beweisen. Luis Moreno Ocampo, der Vorgänger der heutigen Chefanklägerin Fatou Bensouda, hatte den Staatschef und fünf weitere Kenianer angeklagt. Er war überzeugt, dass dieser für die schweren Unruhen nach den Wahlen 2007 in Kenia verantwortlich gewesen war. Mehr als 1000 Menschen fanden dabei den Tod, 100'000 wurden vertrieben.
Verweigern und lügen
Aber weder Moreno Ocampo noch Bensouda konnten den Richtern genügend Beweismaterial vorlegen. Dabei war nicht nur problematisch, dass die kenianischen Behörden die Herausgabe von Kenyattas Telefon-, Bank- und anderen Daten verweigerten. Viel schwerer wog, dass etliche Zeugen der Anklage ihre Aussage revidierten – oder sich als Lügner entpuppten.
Für die Chefanklägerin sei dies eine «grosse Blamage», sagt Tjitske Lingsma. Die niederländische Journalistin und Buchautorin hat dem ICC in den letzten vier Jahren auf die Finger geschaut. Sie verfolgte unzählige Sitzungen auf der Zuschauertribüne im Gerichtssaal und sprach mit vielen Akteuren. Ihre Erfahrungen, noch mehr aber ihre Kritik, hat sie im Buch «All Rise!» gebündelt.
Das Problem mit den Zeugen
Während der vielen Stunden im Gerichtssaal ist Tjitske Lingsma deutlich geworden, dass Zeuginnen und Zeugen ein sehr empfindliches Glied in der ganzen Kette sind. Manchmal übt – wie im Fall von Kenyatta – ein Angeklagter Druck auf sie aus, um ihre Aussagen zu revidieren. Es kam aber auch vor, dass Einheimische, die im Auftrag des ICC-Anklagebüros Zeugen rekrutierten, diese zum Lügen animiert haben. Und es gab Zeugen, die sich eine unwahre Geschichte ausdachten, um in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen zu werden. Damit konnten sie in einem anderen Land ein neues Leben beginnen.
Ohne Zeugen gibt es am ICC jedoch keine Verfahren. Um Demontage zu verhindern, sei es für die kommenden Prozesse wünschenswert, dass Chefanklägerin Fatou Bensouda nur ihre erfahrensten Mitarbeiter für Zeugenbefragungen einsetze, sagt Tjitske Lingsma. Der Chefanklägerin macht das Problem mit den Zeugen sehr zu schaffen. Gegenüber SRF sagte sie, dass sie in Zukunft auch vermehrt auf andere Beweise setzen wolle, etwa auf forensische Angaben, Cyberdaten oder Spitalakten.
Verfahren auf Eis gelegt
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Nicht nur der Prozess gegen Kenias Kenyatta ist geplatzt. Vorläufig wird es auch kein Verfahren gegen den sudanesischen Präsidenten Umar al-Bashir geben. Dieser hätte sich wegen Völkermords in Darfur vor dem ICC verantworten müssen.
Die Chefanklägerin hat seine Anklage bis auf Weiteres auf Eis gelegt, da ihn bisher kein Land verhaften wollte. Zwar läuft seit mehr als zehn Jahren ein internationaler Haftbefehl gegen den Mann aus Khartoum. Trotzdem wird er von afrikanischen ICC-Mitgliederstaaten empfangen, statt nach Den Haag überstellt zu werden. Gegen diese Nicht-Kooperation ist die Chefanklägerin machtlos – eine internationale Polizeitruppe gibt es nicht.
«Die Menschen müssen sich auf diese neue Realität einstellen»
Diese beiden prominenten Fälle zeigen schonungslos, wie schwierig es ist, einem amtierenden Staatschef den Prozess zu machen. Chefanklägerin Fatou Bensouda gibt zu, dass dies eine grosse Herausforderung sei. Dennoch glaubt sie, dass es möglich ist: «Das Gericht ist eine permanente Institution. Die Menschen müssen sich auf diese neue Realität einstellen.»
Das seit 2002 tätige Gericht hatte bisher in 17 Fällen ermittelt. Davon befanden die Richter in sieben Fällen das Beweismaterial als ungenügend. Tatsächlich verurteilt wurden bisher erst zwei kongolesische Rebellenführer – ein paar weitere Prozesse sind hängig –, aber inzwischen wurden 1,2 Milliarden Euro ausgegeben.
Trotz ihrer Kritik möchte Buchautorin Tjitske Lingsma den ICC nicht abgeschafft wissen. Zum einen handle es sich um ein noch sehr junges Institut. Es müsse Zeit bekommen, um herauszufinden, was die effizienteste Arbeitsweise sei. Zum andern sei der ICC immerhin ein Versuch der Menschheit, etwas mehr Gerechtigkeit zu bringen.