Strandspaziergänger haben sich längst daran gewöhnt, dass sie immer wieder einen Bogen um bestimmte Abschnitte der mehr als 350 Kilometer langen Nordseeküste machen müssen – denn diese werden dauernd saniert. Aus der Ferne sieht man jeweils die riesigen Bagger, die den angeschwemmten Sand Schaufel um Schaufel abtragen, und die knallgelben Bulldozer, die mit ihren breiten Raupen die Körnermasse ebnen. Im Fachjargon heisst dieser Vorgang «eine Düne ins Profil bringen».
So lärmig die Bauarbeiten sind, so beruhigend sind sie für die Niederländer. Die Menschen wissen, dass ein Drittel ihres Landes unter dem Meeresspiegel liegt. Eine Überschwemmung in diesem dicht besiedelten Gebiet hätte katastrophale Folgen. Sichere Küstenbefestigungen sind deshalb unerlässlich.
Dem Fluss mehr Raum geben
Dabei geht es nicht nur um den Schutz vor schweren Stürmen. Experten haben berechnet, dass der Meeresspiegel in diesem Jahrhundert um ein Meter dreissig steigen könnte. Es gilt, sich auch vor diesen klimatischen Veränderungen zu wappnen. Deshalb werden in den kommenden Jahren viele Küstenabschnitte um zusätzliche, in Richtung Nordsee angelegte Dünenreihen erweitert.
Gleichzeitig wird dieser Jahrhunderte alte Kampf gegen das Hochwasser an den Deichen im Flussdelta von Rhein, Maas und Waal fortgesetzt. Allerdings auf eine neue Art: Statt wie bisher die «holländischen Berge» noch weiter zu erhöhen, bekommen die Flüsse nun viel mehr Raum. Der neue Grundsatz der niederländischen Deichbauer lautet: Nicht mehr gegen das Wasser kämpfen, sondern mit dem Wasser leben.
In den kommenden Jahren soll der Grundsatz im Rahmen des Projekts «Raum für den Fluss» an 33 Schwachstellen in Tat umgesetzt werden: Die durch Nijmegen fliessende Waal bekommt einen vier Kilometer langen Nebenarm; im Süden, zwischen Den Bosch und Dordrecht, wurden mehrere Bauernhäuser samt Stall und Scheune auf Warften gebaut – künstlich aus Erde aufgeschüttete Siedlungshügel. Bei Hochwasser bleiben sie trocken.
Hochwasserprognosen online abrufen
Das neue Denken und Handeln der Wassermanager beeinflusst auch andere Disziplinen. Inzwischen gibt es mehrere niederländische Architekturbüros, die sich auf Aquawohnen spezialisiert haben, also Häuser auf dem Wasser bauen. In Amsterdam entstand mit Steigereiland (Steg-Insel) das erste schwimmende Quartier Europas. Und in der Nähe von Nijmegen gibt es sogenannte amphibische Wohnungen, die sich mit dem Wasserspiegel sieben Meter nach oben oder unten bewegen können.
Die Wasserbauingenieure tragen mit ihren oft sehr originellen Lösungen dazu bei, dass sich die niederländische Bevölkerung sicher fühlt. Ihr Knowhow wird inzwischen in die ganze Welt exportiert. Die Regierung in Den Haag hingegen bleibt skeptisch. Um das Bewusstsein der Menschen für Hochwassergefahr zu schärfen, hat sie kürzlich eine Überschwemmungswebsite lanciert. Wer die Postleitzahl seines Wohnorts eintippt, sieht in einer Animation, wie hoch das Wasser dort schlimmstenfalls steigen könnte.
Eine ausführliche Rubrik ist der Frage gewidmet, ob es sinnvoll ist, im Ernstfall die eigenen Wohnung zu verlassen. Flüchten bedeute Chaos auf den Autobahnen, weil viele Menschen unterwegs seien. Aber Verharren sei möglicherweise auch keine gute Lösung, denn: «Es kann Tage dauern, bis man wieder auf die Strasse kann», erfährt man. Die Niederländer haben die interaktive Arbeit aus Den Haag zur Kenntnis genommen. Dennoch vertrauen sie auch weiterhin auf das Können der Wasserbauexperten.