Chicago, 2016: Chefredaktorin Kai El’Zabar führt durch die Redaktionsräume des «Chicago Defender». Die gerahmten Zeitungsseiten an den Wänden erzählen die Geschichte der Afroamerikaner – und zugleich die der Wochenzeitung.
Dem Ruf des «Chicago Defender» folgend
«Dieses Titelblatt stammt aus dem Jahr 1966, als Martin Luther King ermordet wurde», erklärt El’Zabar. Und: «Hier sieht man Präsident Truman, der die Rassentrennung im Militär aufgehoben hat, und ja, das ist die erste Ausgabe des ‹Chicago Defender› überhaupt – aus dem Jahr 1905.»
Damals hatte Robert Abbott das Wochenblatt in Chicago gegründet, aber gelesen wurde es bald im ganzen Land – verbotenerweise auch im Süden. Millionen Afroamerikaner folgten später dem Aufruf des «Chicago Defender» und zogen in den 1940er-Jahren aus dem rassistischen Süden weg in den offeneren Norden.
Meinungsmacher bis heute
Heute beträgt die Auflage der Wochenzeitung 16'000, Tendenz wieder steigend; online haben sich 25‘000 Leserinnen und Leser registriert. Das ist zwar deutlich weniger als zu Spitzenzeiten, damals lag die Auflage bei 250'000 Stück – aber das ist kein Grund zur Panik.
Der «Chicago Defender» sei schon immer einflussreicher gewesen als die Auflagezahlen vermuten liessen, sagt Ethan Michaelis, Autor und langjähriger Mitarbeiter der Zeitung. Was im «Chicago Defender» stehe, werde in anderen Publikationen zitiert, die Journalisten gelten als gewichtige Stimmen der afroamerikanischen Community – so bekomme das, was im «Chicago Defender» stehe, mehr Gewicht. Michaelis hat 2016 ein Buch über die Zeitung geschrieben.
Alltagsthemen aus der Optik von Afroamerikanern
Die positive Entwicklung der Leserzahl in den letzten Jahren zeigen für Chefredaktorin Kai El‘Zabar, dass sie publizistisch auf Kurs ist: «Rund 10 Reporter sind im Team, die Stories alle selber recherchiert, das macht die Sache manchmal nicht so einfach. Man muss Augen und Ohren immer offen haben.»
Seit Kai El’Zabar im Herbst 2014 die Führung der Redaktion übernommen hat, behandeln die Artikel wieder mehr Themen aus dem Alltag der Leserschaft als früher. Sie sind stärker aus der Optik von Afroamerikanern geschrieben. An Themen mangelt es nicht: Probleme beim öffentlichen Schulwesen, die hohe Mordrate, der umstrittene Gouverneur von Illinois – und immer wieder: Polizeigewalt gegen unbewaffnete schwarze Männer.
Beiträge zum Thema
Mainstream macht mit – aber aus weisser Sicht
In jüngerer Zeit würden auch Mainstream-Medien diese Geschichten aufgreifen – vor allem wenn es Videos gäbe, die keine andere Meinung zuliessen, erzählt El’Zabar. Jedoch: «Meistens wird aber die Sicht der Weissen eingenommen. Da ist nichts falsch dran. Aber viele Afroamerikaner fühlen sich da nicht wirklich angesprochen und verstanden.»
Diese Lücke füllt der «Chicago Defender» seit mehr als 100 Jahren. Und wird es auch künftig tun. Solange auf jeden Fall, bis die Hautfarbe in den USA tatsächlich keine Rolle mehr spielt.
Sendung: Kultur Kompakt, Radio SRF 2 Kultur, 27.6.2016, 17.20 Uhr