Oliver Sacks hat, wovon andere Forscher nur träumen. Er hat eine Fangemeinde. Denn dem Erzähler Sacks gelingt es, das Wissen des Klinikers Sacks in verständliche Sätze zu giessen. Er verwandelt komplexeste neurologische Fallstudien in eingängige Lebensgeschichten.
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Aus einem Prosopagnosie-Patienten wird der Mann, «der seine Frau mit einem Hut verwechselte». Aus der Frau mit dem Charles-Bonnet-Syndrom, wird die blinde «Rosalie», vor deren innerem Auge Menschen mit wallend-morgenländischen Gewändern in visionären Szenerien vorbei gleiten. Es sind Geschichten, die unmittelbar berühren – durch ihren Inhalt und ihre Form.
Neurowissenschaften für ein breites Publikum
Sacks hat denn auch massgeblich dazu beigetragen, die Wissenschaft vom Gehirn, die Neurologie, einem breiten Publikum nahe zu bringen. Sacks leistet eine überaus wertvolle Übersetzungsarbeit, die Vorurteile abbaut, Interesse weckt und mancher Störung ihren Schrecken nimmt. Da mag man ihm die eine oder andere Ungenauigkeit in seinen Beschreibungen durchgehen lassen, auch wenn ihm dies gelegentlich von Berufskollegen zum Vorwurf gemacht wird.
Seit bald einem halben Jahrhundert vermittelt der britisch-amerikanische Neurowissenschaftler seine Beobachtungen an Laien. Er schildert, wozu das menschliche Gehirn fähig ist. Das Gehirn im Ausnahmezustand wohlgemerkt: das talentierte, das verletzte, das gestresste, das kranke, das berauschte Gehirn.
Gehirne ausser Rand und Band
Sacks porträtiert eben jenen Mann, der keine Gesichter mehr erkennen kann, den Kopf seiner Frau für einen Hut auf einem Kleiderständer hält und Parkuhren für Kinderköpfe, die er liebevoll streichelt. Er führt uns die synästhetische Begabung eines Komponisten vor, der Töne nicht nur hören, sondern auch in Farbe sehen kann.
Er beschreibt die Halluzinationen einer Epileptikerin, deren Anfälle jeweils mit einer fantastischen Geruchsexplosion zu Ende gehen und er lässt uns teilnehmen am Alltag eines vom Tourette-Syndrom geschüttelten Chirurgen, der alle Operationen hoch konzentriert, frei von jeglichen Bewegungs-Tics durchführen kann, um unmittelbar danach wieder in heftigste Zuckungen zu verfallen.
In der ihm eigenen liebevollen und einfühlsamen Art stellt uns Oliver Sacks immer wieder skurrile anmutende neurologische Symptome vor und die Menschen, die solches erleben.
Er scheut sich auch nicht, seine eigene Biografie zur Illustration heranzuziehen. Denn Sacks schreibt nicht nur über die anderen, er schreibt auch über sich und seine persönlichen Erfahrungen mit einem Hirn, das hin und wieder aus dem Takt gerät.
Im Buch «Der Tag, an dem mein Bein fortging» beschreibt er, wie er nach einem Unfall mit einem fremden Bein im Krankenhausbett liegt. Unfähig, sein verletztes Bein, das er nicht mehr spürt, als sein eigenes zu begreifen. Eindrücklich sind auch Sacks drogeninduzierte Halluzinationen, über die er in seinem jüngsten Buch «Drachen, Doppelgänger und Dämonen» eingehend berichtet.
Mit 14 sollte er Sezieren üben - meinte seine Mutter
Kindheit, Jugend und Studienjahre hat Oliver Sacks in Grossbritannien verbracht. Er wird 1933 als Sohn eines jüdischen Ärztepaares in London geboren. Das Elternhaus ist sehr naturwissenschaftlich geprägt und Oliver, der jüngste von vier Brüdern, wird schon früh mit der herben Welt der Medizin in Kontakt gebracht.
Seine Mutter, eine Chirurgin, bringt ihm früh schon gelegentlich missgebildete Föten heim, damit er an diesen das Sezieren übe. Als er 14 Jahre alt ist, nimmt sie ihn in den Anatomiesaal mit, wo er ein Bein sezieren soll. In seiner Autobiografie («Onkel Wolfram», Rowohlt Verlag) beschreibt er, wie tief schockiert er ist, als er merkt, dass das Bein zum toten Körper eines gleichaltrigen Mädchens gehört.
Sacks' eigene Drogenerfahrungen
Nach Studien in Physiologie, Biologie und Medizin reist er 27-jährig in den Urlaub nach Nordamerika und kehrt nicht mehr zurück. In eben diese erste Zeit weg von zu Hause fallen seine Drogenexzesse. Im Kalifornien der 1960er Jahre beginnt er mit allerlei Drogen zu experimentieren: Morphium, Cannabis, LSD, Belladonna-Substanzen oder Prunkwindensamen – letztere am liebsten mit Vanille-Eis vermengt. Während eines Trips sieht er «das wahre Indigo».
Sendungen zum Thema
In einem Morphium-Rausch wird er Zeuge einer historischen Schlachtszene, die sich während zwölf Stunden im Miniaturformat auf dem Ärmel seines Morgenmantels entfaltet.
Doch Sacks fängt sich, bildet sich weiter und eröffnet bald eine neurologische Praxis in New York. Er arbeitet am «Einstein College» in New York, später an der Columbia University. In den 1970er Jahren verfasst er seine ersten populärwissenschaftlichen Bücher. Zeit seines Lebens lebt er allein und bleibt ein liebevoller Einzelgänger, der aus einem reichen Fundus von Begegnungen mit den unterschiedlichsten Patienten schöpft.
Sacks im Kino
Oliver Sacks‘ Fallsammlungen zu den rätselhaften Anwandlungen des menschlichen Gehirns entwickeln sich regelmässig zu Bestsellern. Vielen ist Oliver Sacks – wohl ohne, dass sie sich dessen bewusst sind – im Kino begegnet. Bereits Sacks zweites Buch «Awakenings» über die Opfer der «Europäischen Schlafkrankheit» findet nämlich seinen Weg ins Kino. Schauspieler Robin Williams verkörpert im Hollywood-Drama «Awakenings - Zeit des Erwachens» aus dem Jahr 1990 den jungen Neurologen Sacks zu Beginn seiner Karriere.
Heute ist Oliver Sacks auf einem Auge blind, deswegen auf einen Stock angewiesen und – wie er selber sagt – an Land ein eher tollpatschiges Wesen. Trotzdem geht er weiter seinen Weg. Er hat eine Anstellung an der New York University.
Sein jüngstes Buch «Drachen, Doppelgänger und Dämonen» ist erst vor wenigen Monaten erschienen und Oliver Sacks betreut noch immer Patientinnen und Patienten in seiner Praxis.
Patienten, die sich häufig nach der Lektüre seiner Bücher, auf eigene Initiative bei ihm vorstellen und deren Symptomatik er dann wiederum in seinen Büchern zum Thema macht.