Was interessiert einen Philosophen am Fussball?
Vieles. In erster Linie aber das Verbot der Hand, des intelligentesten Körperteils. Der Fussball macht die Evolution des Menschen in gewissem Sinn rückgängig, denn er verbietet den Gebrauch der Hand, die wir seit dem aufrechten Gang frei verwenden können. Erst durch den intelligenten Einsatz der Hände entwickelte sich übrigens unser Sprachzentrum im Gehirn – und damit auch das komplexe Denken. Diesen Riesenschritt der Menschheit macht der Fussball rückgängig. Damit zwingt er uns zu einer Umcodierung des Körpers und stellt unser Denken vom Kopf auf die Füsse.
Und weil unsere Füsse im Vergleich zu den Händen so ungeschickt sind, geschehen nur selten Tore. Ist das nicht langweilig?
Die Höhepunkte sind zwar selten, aber es gibt viele Chancen. Das heisst, man scheitert oft. Wie im Leben. Und es braucht Glück – die Gunst des Zufalls. Wie im Leben. Fussballer sind permanent damit beschäftigt, den Zufall zu bewältigen. Der tückische Ball macht nämlich oft, was er will. Und manchmal verliert ein Team, obwohl es besser gespielt hat. Das ist ungerecht. Wie das Leben. Der Fussball liefert also ein Deutungsschema unserer Existenz.
Und wie im Leben gibt es nur selten Standardsituationen?
Genau. Alles ist im Fluss und entsteht aus der Situation. Die Dinge sind unvorhersehbar. Vieles kann gar nicht eingeübt werden. Man muss im Augenblick präsent sein. Das gleiche gilt übrigens für das Publikum: Im Stadion lebt man in der absoluten Gegenwart. Diese Unmittelbarkeit ist ein seltenes Gut in unserer heutigen Gesellschaft. Auch darum fasziniert Fussball.
Können im Stadion auch religiöse Gefühle aufkommen?
Rund um den Fussball gibt es jede Menge kultische und rituelle Elemente, von der Anbetung der Helden bis zu den getragenen Gesängen der Fans, die an Prozessionen erinnern. Diese Rituale erzeugen in der Fangemeinde eine innere Haltung oder eine Stärke, die dann auch auf die Spieler im Stadion übergehen kann.
Bedient der Fussball auch Machtfantasien?
Klar. Es geht um Dominanz und Herrschaft über das Spiel. Das zeigt sich auch in der Ästhetik des Fussballs. Schönheit entsteht nur, wenn Herrschaft errungen wird. Ein schönes Spiel ist immer auch effektiv. Zwei Mächte kämpfen unversöhnlich darum, ihr Gesetz zu errichten. Die Ästhetik des Fussballs ist eine Ästhetik der Grausamkeit. Das Spiel gleicht einer existenziellen Prüfung.
Kann der Fussball das Selbstbild eines Landes verändern?
Ja, wir haben das 2006 in Deutschland gesehen. Da kam eine gewisse Lockerheit in das verkrampfte Selbstbild der Deutschen. Der Fussball kann das Selbstbewusstsein einer Nation stärken, und der Stil einer Mannschaft kann zu einem neuen Lebensstil beflügeln.
Zum Schluss: Wie sähe die ideale philosophische Fussballmannschaft aus?
Martin Heidegger im Sturm – rücksichtslos, brachial, nach vorne denkend, gegen die Tradition. Aristoteles im Tor, konservierend, defensiv, breit aufgestellt. René Descartes im defensiven Mittelfeld, der Schweinsteiger-Typ, zwischen Tradition und Moderne. Und der Empirist John Locke in der Verteidigung, geerdet, ohne grosse Phantasien, abblockend gegenüber metaphysischer Spekulation.
Sendung: «Zündstoff - der philosophische Stammtisch»,12. Juni 2016, 11 Uhr, SRF1.