Zum Inhalt springen

Gesellschaft & Religion Der Vietnamkrieg ist vorbei, das Sterben noch nicht

Der Krieg in Vietnam ist seit fast 40 Jahren vorbei. Aber noch immer leiden Menschen: Sie werden von Blindgängern getötet oder haben körperliche Behinderungen. Oder sie bringen behinderte Kinder zur Welt, weil sie dem Entlaubungsmittel Agent Orange ausgesetzt waren. Ein Augenschein vor Ort.

Das Dorf Nam Dong liegt friedlich in der tropischen Sonne. Wir sind nahe der ehemaligen Demarkationslinie am 17. Breitengrad. Sie teilte von 1954 bis 1975 Nord- und Südvietnam. Während des Krieges war es die am härtesten umstrittene Gegend. Nirgendwo sonst im Land sind so viele Bomben niedergegangen wie hier.

Tod durch US-Bomben – noch heute

Eine zierliche Asiatin mit schwarzem Pullover und Mütze, vor ihr ein kleiner Junge im Trainer, der auf den Boden blickt.
Legende: Jetzt ist es sicher: die 74-jährige Tran Thi Chat mit ihrem Enkel im Garten hinter dem Haus. SRF / Hans Ineichen

Seit dem Ende des Krieges 1975 sind in ganz Vietnam etwa 40‘000 Menschen durch die Explosion von Blindgängern getötet worden. Das sind im Durchschnitt 3 Menschen pro Tag. Und 65‘000 wurden zum Teil schwer verletzt. Internationale Organisationen helfen seit Jahren bei der Säuberung des Landes. Zum Beispiel die Mine Advisory Group (MAG).

MAG-Leute führen uns zu Tran Thi Chat. Im Garten der 74-Jährigen sind die Räumungsarbeiten abgeschlossen. Sie kann wieder ohne Angst Gemüse anbauen, das sie und ihr Mann auf dem Markt verkaufen. «Als wir nach dem Krieg hierher gezogen sind, hat mein Mann Teile von Bomben gefunden, welche die Amerikaner abgeworfen hatten. Das machte mir grosse Angst. Mein Mann sagte: Du gehst nicht in den Garten, die Kinder auch nicht, nur ich arbeite im Garten», erzählt Tran Thi Chat. Passiert sei zum Glück nie etwas. Aber die Angst war in all den Jahren ständige Begleiterin: «Wenn ich auf dem Markt war, blieb mein Mann zuhause und arbeitete im Garten. Ich war immer sehr erleichtert, wenn ich nach Hause kam und er noch am Leben war.»

USA zahlen nur für eigene geschädigte Veteranen

Bomben und Minen sind sichtbare Überbleibsel des Krieges. Mit dem nötigen Aufwand können sie vernichtet werden, bevor sie Menschen töten. Anders das Entlaubungsmittel Agent Orange. Die US-Amerikaner versprühten in den 1960er-Jahren und bis 1972 fast 76 Millionen Liter dieses dioxinhaltigen Pflanzengiftes über dem Ho-Chi-Minh-Pfad durch den Dschungel von Vietnam, Laos und Kambodscha. Sie wollten damit das Dickicht der Tropenwälder entlauben und so die Verstecke ihrer Gegner ausfindig machen.

Die Mine Advisory Group (MAG)

Box aufklappen Box zuklappen

Die englische Nicht-Regierungs-Organisation MAG arbeitet derzeit in 15 vom Krieg versehrten Ländern, darunter auch Angola, Libyen, Südsudan, Irak. Wichtiges Ziel ist auch die Bekämpfung der Armut: Erst wenn das Vertrauen in die Sicherheit des Bodens da ist, bestellen die Menschen ihre Äcker wieder. So haben sie eine Chance, der Armut zu entkommen.

Dabei sind auch eigene Soldaten vergiftet worden. Sie und deren behinderte Nachkommen erhalten Geld vom US-Staat. Die Agent-Orange-Opfer in Vietnam hingegen erhalten nichts aus der US-Kasse. Aber sie werden vom vietnamesischen Staat unterstützt. Zum Beispiel Do Thi Hiem. Die 31-Jährige lebt mit ihrer Mutter und zwei Schwestern in der Stadt Nha Trang, einem Badeort an der südlichen Zentralküste.

«Das Schlimmste ist die Isolation»

Bei unserem Besuch liegt Do Thi Hiem auf einer Bastmatte gleich hinter dem Eingang zum kleinen, einstöckigen Haus. Sie trägt ein dunkelblaues Kleid mit silberfarbener Brosche, darunter gestreifte Leggins. Neben ihr liegt die 20-jährige Schwester Do Thi Thanh Vi. Beide haben den Oberkörper und den Kopf von Erwachsenen. Ihre Arme und Beine aber sind verkümmert, Hände und Füsse sind in bizarren Winkeln abgespreizt. Zum Stehen und zum Gehen taugen diese Beine nicht.

Ihre 58-jährige Mutter erledigt alles für die beiden: einkaufen, kochen, Essen eingeben, die Körperpflege, und sie bringt ihnen auch rechnen und lesen bei. Dafür erhält sie von der Stadtverwaltung umgerechnet gut 100 Franken pro Monat. Nur ganz selten geht die Mutter mit ihren schwer behinderten Töchtern nach draussen – abwechslungsweise, mal mit der einen, dann mit der anderen. Denn es gibt nur einen funktionierenden Rollstuhl im Haus.

Diese Ausflüge sind das Schönste im Leben von Do Thi Hiem. Das Schlimmste sei der fehlende soziale Kontakt, sagt sie dem Besucher aus der Schweiz und strahlt ihn mit leuchtenden Augen an. Groll gegenüber den USA habe sie nicht. Was geschah, sei Vergangenheit; sie lebe heute und denke nicht über das nach, was damals angerichtet wurde.

Meistgelesene Artikel