Gibt es den Osten als Einheit? Es scheint ihn zumindest als Kategorie gegenseitiger Abgrenzung zum Westen zu geben: Im Zusammenhang mit Konflikten wird häufig der Westen dem Osten gegenübergestellt – der Westen blickt auf den Osten und scheint dabei immer ratloser zu werden.
Dabei sollte der Westen vermehrt nach innen schauen und die östliche Welt für eine eigene Sichtweise freigeben. Diese Empfehlung gibt der indische Schriftsteller Pankaj Mishra in seinem 2013 erschienenen Buch «Aus den Ruinen des Empires». Mishra stammt aus dem nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh, wo er als Sohn eines Bahnarbeiters in bescheidenen Verhältnissen aufwuchs. Heute lebt er mit Frau und Tochter in London – wenn er nicht in einem kleinen Dorf am Himalaya, das zweitausend Meter hoch gelegene Mashoroba, dem Schreiben nachgeht.
Zäsuren des Ostens
In seinem Buch beleuchtet Mishra die Weltgeschichte aus der Sicht östlicher Denker und setzt so neue historische Schwerpunkte. Die westliche Geschichtsschreibung dreht sich um die Weltkriege und das Ende des Kalten Krieges. Mishra rückt andere Schlüsseldaten ins Zentrum. Es sind dies historische Einschnitte der östlichen Niederlagen und Revolutionen im Kampf gegen die westliche Fremdherrschaft.
1919 ist für ihn eine solche Zäsur. US-Präsident Woodrow Wilson proklamierte das Selbstbestimmungsrecht aller Völker. Darauf setzten die östlichen Länder an der Pariser Friedenskonferenz nach dem Ersten Weltkrieg und erhofften die Unabhängigkeit. Die westliche Realpolitik belehrte sie eines besseren, als die fremden Mächte ihre Reiche als Kriegsbeute untereinander aufteilten. Für Mishra steht dies exemplarisch für den Verrat des Westens an seinen eigenen Werten.
Wenn Modernisierung scheitert
Mishra macht deutlich, wie der Blick des Ostens die allgegenwärtige Fortschrittsideologie des Westens mit der einst gewaltsamen Kolonialisierung der eigenen Heimat unmittelbar verbunden sieht. Die sogenannten westlichen Werte wie Rationalisierung, Individualisierung, Demokratie und freie Marktwirtschaft bedeuten aus östlicher Sicht vor allem Scheinheiligkeit und Arroganz. Für den Osten haben sich diese Werte nicht in einem historischen Prozess von unten nach oben generiert, sie wurden ihm unter gänzlich anderen sozialen Bedingungen radikal übergestülpt. Die Imperialisten ignorierten dabei die Bandbreite an Traditionen und die innere Vielfalt der östlichen Welt. Diese Kulturen tragen nun nicht nur das Trauma der Fremdherrschaft in sich, sie haben auch mit den negativen Auswirkungen gescheiterter Modernisierungsversuche zu kämpfen.
Fatales Nacheifern
Es ist der Prozess der Dekolonialisierung, den Mishra als konstitutiv für die Identität des Ostens sieht und der nun auf den Westen zurück fällt. Einheimische Eliten übernahmen die europäischen Prinzipien, «um den Westen in einem scheinbar darwinistischen Kampf um die Zukunft zu schlagen», erklärt Mishra. Er übt harsche Kritik an diesen Prinzipien. Eine blinde Nachahmung durch den Osten müsse zwangsläufig weitere Gewaltexzesse um Ressourcen und Grenzziehungen zur Folge haben. Das östliche Nacheifern im Streben nach endlosem Wirtschaftswachstum suggeriere die fatale Hoffnung, dass Milliarden von Konsumenten in Indien und China eines Tages denselben Lebensstandard haben werden wie Europäer und Amerikaner. Diese Hoffnung, so Mishra, «verdammt die globale Umwelt dazu, bald zerstört zu werden und schafft ein gewaltiges Reservoir an nihilistischer Wut und Enttäuschung bei vielen Hundertmillionen von Habenichtsen».
Verständnis durch Perspektivenwechsel
Der Perspektivenwechsel von Mishra macht bewusst, in welchem Ausmass die sozialen Dynamiken des Westens und des Ostens aufgrund der historischen Entwicklungen miteinander verknüpft sind.
Gemäss Mishra sieht sich der Westen gerne in der Vorreiterrolle. Aber auch in der westlichen Welt jagt eine Krise die nächste und grundlegende Wertemodelle werden zunehmend in Frage gestellt. Gleichzeitig hat auch der Osten dem Westen keine Alternativen eines geeigneteren Gesellschaftsmodells entgegenzusetzen. Letztlich sind es globale Krisen: Um Lösungen zu finden, müssen diese Zusammenhänge zuerst in ihrer weitreichenden Komplexität verstanden werden. Eine benötigte Objektivität, die durch einen Blick, der sich von aussen dem Westen nähert, vielleicht besser erreicht werden kann.