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Ein Porträt von Adriana Lettrari.
Legende: Adriana Lettrari erlebte ihre Kindheit und Jugend an der Ostsee in Mecklenburg-Vorpommern. Hendrik Rauch

Gesellschaft & Religion Deutschlands gespaltene Generation will Verantwortung übernehmen

Adriana Lettrari ist Trägerin des «Preis Frauen Europas 2016». Der von einem europapolitischen Netzwerk vergebene Preis würdigt Frauen, die sich für die Festigung Europas einsetzen – ehrenamtlich.

Adriana Lettrari ist eine Frau, die schnell reden kann – sehr schnell. Und es ist eine Frau, die gerne Thesen aufstellt.

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Eine These der studierten Kommunikationswissenschaftlerin lautet: «Wir brauchen endlich ein neues Verständnis als gesamtdeutsche Generation.» Wie kommt man auf so einen Satz? Das ist eine lange Geschichte.

«Hier wirst du nichts»

Die Geschichte beginnt 1979 in Neustrelitz in Mecklenburg-Vorpommern. Dort wurde Adriana Lettrari geboren. Die Familie zieht bald darauf nach Rostock. Der Vater flieht 1985 in den Westen. Die Mutter bleibt mit den zwei Kindern allein zurück.

Buchhinweis

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Adriana Lettrari: «Dritte Generation Ost: Wer wir sind, was wir wollen», Ch. Links Verlag, 2015.

Lettrari ist zehn Jahre alt, als die Mauer fällt. Sie ist 15 als die Wendefolgen in Rostock unübersehbar sind: Betriebe schliessen, die Arbeitslosigkeit explodiert. Und die Mutter sagt: «Kind, wenn du als Ossi was werden willst, musst du woandershin gehen. In Ostdeutschland wirst du nichts.»

Ein Satz, der schmerzt

Ein Satz mit Widerhaken. Einer der mit Lettrari reist all die Jahre – während des Studiums der Kommunikationswissenschaften in Berlin, und später, als sie als Organisationsberaterin in Brüssel und Tansania arbeitet. Bis er – 20 Jahre nach der Wende – in ihrem Kopf zu schmerzen anfing.

Adriana Lettrari spricht mit dem Mikrophon zu jemandem.
Legende: Welche Rolle spielt die einstige Teilung des europäischen Kontinents? Das interessiert «Wendekind» Adriana Lettrari. Stefan Röhl

«Unfassbar. Da wurden im Fernsehen Berichte über Wendekinder gezeigt. Die waren in der Regel rechtsradikal und auch noch arbeitslos. Dabei haben damals 70 Prozent der Wendekinder Ostdeutschland verlassen, leben heute in der ganzen Welt und haben zumeist beeindruckende Bildungsbiografien hingelegt. Das ist überhaupt nicht gezeigt worden.»

Ostdeutsche wissen, wie friedlicher Wandel geht

Fast 1.7 Millionen Jugendliche deren Biografien in den Medien nicht vorkommen? Das machte sie wütend. 2009 fasst die damals 30-Jährige den Entschluss, diesem Teil ihrer Generation, den sie «3. Generation Ost» nennt, eine Stimme zu geben. Sie baut Netzwerke auf, organisiert Biografie-Workshops und 2011 eine von internationalen Medien vielbeachtete Konferenz.

3. Generation Ost

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Als 3. Generation Ost wird die Generation junger Ostdeutscher bezeichnet, die ihre Kindheit zum Teil in der DDR und im wiedervereinigten Deutschland verbracht hat. Charakteristisches Merkmal ist das Aufwachsen in zwei gegensätzlichen politischen Systemen sowie die Umbruchserfahrung von 1989. Dazu gehören rund 2.4 Millionen Menschen.

Zum ersten Mal, erinnert sich Lettrari, wurde in der Öffentlichkeit sichtbar, was diese jungen Ostdeutschen auszeichnete: «Die Kindheit in einer Diktatur verbracht zu haben, und die Jugend in einer Transformationsgesellschaft, bedeutet doch, dass sie alle eine hohe Transformationskompetenz haben müssen. Diese Generation hat verstanden, wie friedlicher Wandel gehen kann!»

Eine Generation, die Verantwortung übernimmt

Heute geht es Adriana Lettrari längst um mehr. Ihr geht es darum, dass sich alle in West- und Ostdeutschland zwischen 1975 und 1985 Geborenen beginnen, endlich als gesamtdeutsche Generation zu verstehen. Gemeinsam mit 20 anderen, Ost- wie Westdeutschen und Migrantenkindern, verfasst sie 2013 ein Memorandum , das zum ersten Mal dieses neue Selbstverständnis formuliert:

«Unsere Botschaft ist, dass wir die Generation sind, die diese Verantwortung übernehmen will und das wir die Richtigen dafür sind. Die Richtigen sind aus unserer Sicht nicht diejenigen, die mit rassistischen und nationalistischen Vorurteilen Lösungen finden wollen. Das sind nicht die Personen, die die Zukunft gestalten sollten.»

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 7.11.2016, 6:50 Uhr.

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