Es ist eine Nacht wie jede andere. Die italienischen Saisonniers arbeiten in der Spätschicht in einem Stollen des heutigen Lötschberg-Tunnels. Um 2.30 Uhr hört der Mineur Antonio Ragazzini den vertrauten, dumpfen Knall von Dynamit, das weiter hinten den Berg teilt. Dann reisst ihm eine Druckwelle den Hut vom Kopf und er hört Stimmen: «Flieht, flieht! Das Wasser kommt!» Ragazzini versucht sich an eine Luftzufuhrleitung zu klammern, doch die Lawine aus Schlamm und Wasser reisst ihn mit.
Die Verunglückten wurden eingemauert
In der Spital-Baracke kommt der Mineur wieder zu sich, er ist einer von lediglich drei Überlebenden. 25 Landsleute und 4 Stollenpferde verschluckt der Unglücks-Stollen. Soweit das Protokoll. Es wird angenommen, dass die meisten Mineure unmittelbar nach der Katastrophe starben, doch bis heute weiss niemand genau, wie viele noch lebend, oder halb lebend, auf Rettung hofften.
Jegliche Rettungs- oder Bergungsversuche der Eingeschlossenen scheiterten. Die Einsturzstelle war so gefährlich, dass niemand das Risiko einer erneuten Überschwemmung eingehen wollte. Und so entschied man, den Stollen zuzumauern – ein für alle Mal. Die Ingenieure zeichneten eine neue Strecke für den Lötschberg-Tunnel und die Arbeiten wurden Monate nach der Tragödie weitergeführt. Die deutlich spürbare S-Kurve verlängerte den Tunnel um rund 800 Meter und führt noch heute am Ort des Unglücks vorbei.
Die Schuldfrage bleibt ungeklärt
Doch wie konnte es überhaupt zu dieser Katastrophe kommen, was wurde falsch gemacht? Die Antwort ist simpel: menschliche Fehlkalkulation. Der Tunnel sollte an der Unfallstelle laut Plan eigentlich 100 Meter unter dem darüber liegenden Gasterntal durch harten Fels führen. Ein Geologe aus Zürich bemerkte, dass die Bohrungen zu wenig tief gesetzt wurden und warnte den Oberingenieur. Doch die Arbeiten wurden wie gehabt fortgesetzt, und die Mineure sprengten ihren Weg durch loses Sedimentgestein und trafen auf eine Wasserader. Das Ergebnis war die Entfesselung von 7000 Kubikmeter Schutt und Schlamm auf einer Länge von 1500 Metern.
Die Leiche eines einzigen Arbeiters, Vincenzo Aveni, fand man am Tag nach der Katastrophe und konnte sie in Kandersteg bestatten. Die Skelette der restlichen 24 Opfer liegen noch heute im Geröll. 100 Jahre nach Eröffnung des Tunnels. Die Angehörigen der Verschütteten erhielten einen Schadenersatz von insgesamt 102'300 Franken. Damit war der Fall erledigt, die Schuldfrage wurde nie geklärt.