Derzeit wird die EU von unterschiedlichen Seiten kritisiert. England denkt gar daran, aus der Union auszutreten. Was sind die Gründe für das wachsende Unbehagen der Bürger am Projekt Europa?
Nicola Forster: Im Kern geht es um die Angst vor Kontrollverlust. Die Globalisierung schreitet rasant voran und das Schicksal der Nationalstaaten hängt immer stärker vom globalen Handel und der Weltpolitik ab. Das kann beängstigend sein. Wenn dann zusätzlich noch eine wirtschaftlich schwierige Phase eintritt, wird schnell das ganze Projekt in Frage gestellt.
Und darum möchte man die Dynamik rückgängig machen?
Zumindest bremsen. Ich erkläre die gegenwärtige Spannung zwischen Globalisierung und Nationalismus gerne mit einem Bild: Es ist, als ob der Bauch an der Selbstbestimmung festhalten will, während die Hände längst gewinnbringend am globalen Spiel beteiligt sind.
Und gegenwärtig regiert der Bauch?
Genau. Der Mythos der Souveränität wird zum neuen Leitbild und verhindert so eine pragmatische und den Interessen des Landes dienende Aussenpolitik. Zudem wird die Angst zum Nährboden für einfache politische Lösungen, die in der Realität kontraproduktiv sind. Stichwort Ausländerfeindlichkeit. Diese Tendenz ist auch in der Schweiz zu beobachten.
Wäre denn ein EU-Beitritt für die Schweiz vernünftig?
Nein. Die Schweiz sollte diesbezüglich aber ergebnisoffen bleiben: Ob ein EU-Beitritt in unserem Interesse liegt, muss immer wieder neu und möglichst emotionslos beurteilt werden. Dies ist in der aufgeladenen Debatte in der Schweiz aktuell jedoch schwierig. Die EU ist weder Teufel noch Heilsbringerin. Sie befindet sich in einer Orientierungsphase und müsste zuerst ihre Hausaufgaben machen, bevor sie zu einer ernsthaften Option für die Schweiz wird.
An welche «Hausabgaben» denken Sie?
Die EU wird zu starr und zu einheitlich regiert. Die berühmt-berüchtigten Regelungen für Gurken, Glühbirnen oder Staubsauger stehen öffentlichkeitswirksam für eine Regulierungswut, die uns Schweizern unsympathisch ist. Harmonisierung mag in manchen Bereichen sinnvoll sein, aber sie hat Grenzen. Der Grundsatz der Subsidiarität, um einen europäischen Zentralismus zu verhindern, wird nicht konsequent genug umgesetzt.
Welches Modell der Zusammenarbeit schwebt Ihnen vor?
Ein Modell mit «variabler Geometrie». Das heisst, es sollten verschiedene Allianzen und Grade der Zusammenarbeit möglich sein. So könnte die Schweiz mit einigen EU-Ländern in bestimmten Bereichen enger zusammenarbeiten als mit anderen. Eigentlich recht ähnlich wie das Konkordat-Modell der Kantone.
Wäre das nicht viel zu kompliziert? Gemäss der ehemaligen EU-Vizekommissionspräsidentin Viviane Reding sind die bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU «undurchsichtig, bürokratisch und nicht mehr zeitgemäss». Zudem gibt es bestimmte unverrückbare Grundpfeiler der EU – etwa die Personenfreizügigkeit.
Derzeit wird ja fleissig über ein Rahmenabkommen verhandelt, das die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU vereinfachen soll. Und was die Personenfreizügigkeit angeht: In diesem Punkt wird die EU wohl kaum einlenken. Die Schweiz muss sich spätestens in zwei Jahren entscheiden: Bilaterale oder Masseneinwanderungsinitiative. Ich bin gespannt. Letzteres wäre ein gewagtes Experiment mit unvorhersehbarem Ausgang.
Neben dem Argument «Wer Mitglied ist, kann auch mitbestimmen», hört man aus Brüssel immer wieder, Europa müsse sich möglichst einheitlich präsentieren. Nur so habe man in der Weltpolitik von morgen noch eine hörbare Stimme und behaupte sich gegenüber Grossmächten wie den USA, China, Russland oder Indien. Denkt die Schweiz zu wenig an ihre Zukunft?
Dieses Argument leuchtet ein – aber nicht unbedingt für die Schweiz. Denn die Schweiz kann, anders als etwa Deutschland, auf globale Machtpolitik verzichten und sich ihre Nischen selber auswählen, in denen sie eine Rolle spielen möchte. Ja, sie kann aus ihrem Abseitsstehen auch eine Tugend machen und sich als unabhängige, neutrale Plattform und als diplomatische Vermittlerin in internationalen Konflikten präsentieren.
Die Schweiz als Mediatorin in globalen Auseinandersetzungen?
Nicht nur das. Sie kann auch in Sachen Demokratie ein Vorbild sein. Wir sollten das beste Produkt der Schweiz im Ausland besser anpreisen: unser politisches System der direkten Demokratie. Darum haben wir im Rahmen unseres Think-Tanks «foraus» die Idee eines Demokratie-Instituts entworfen – quasi ein Wanderzirkus für direkte Demokratie mit dem Namen «SwitzerLAB for Democracy».